Die Badenden von Otto Mueller – Kritische Anmerkungen zur aktuellen Werkschau im LWL Münster
Lothar Adam
Als ich eine kleine Expressionisten-Ausstellung vor einigen Jahren im Lehmbruck-Museum besuchte, stieß ich auf das Bild „Zwei Akte unter Bäumen“ von Otto Mueller. Erst nach einer eingehenden Untersuchung, sozusagen auf den zweiten Blick, konnte ich mich mit ihm anfreunden. Welche Wirkung werden die nun fast 100 Werke von Mueller auf mich haben, die ab sofort im LWL-Museums Münster zu sehen sind?
Im Zentrum des Werkes von Otto Mueller stehen unbekleidete Frauen, häufig im Rahmen von Badeszenen. Wie nehmen ich sie nun rund 100 Jahre später wahr?
Bevor ich einzelne Bilder kommentiere, zunächst einige Hintergründe:
Die Ausstellung „Otto Mueller“, hervorragend kuratiert von der renommierten Müller-Experting Tanja Pirsig-Marshall, widmet sich anlässlich des 150. Geburtstages des ehemaligen Brücke-Künstlers Otto Mueller (1874-1930) dem Leben und Werk des Expressionisten, indem es – anknüpfend an neuere Ausstellungen über den Expressionisten in Bremen, Dortmund und Essen – kritische Fragen aus heutiger Sicht an sein Werk stellt.
Ein kurzer Rückblick in die Kunstgeschichte: Die Darstellung des nackten (meist weiblichen) Körpers bedurfte in der Vergangenheit für lange Zeit die Einbettung in mythologische, religiöse oder geschichtliche Zusammenhänge. Die Frauen waren Rollenträgerinnen. Das änderte sich im 19. Jahrhundert. Spätestens mit Manets „Olympia“ kommen reale Frauen (in diesem Fall: eine Prostituierte) ins Bild. Seitdem können unbekleidete Frauen und Männer ohne Staffage gezeigt werden.
Die Badeszenen von Mueller beziehen sich nicht nur auf diese kunsthistorische Entwicklung, sondern sie verweisen auch auf die zur damaligen Zeit aufkommende Freikörper-Kultur und spiegeln biografische Erfahrungen und Eindrücke wider, etwa die Badefreuden mit seinen Brücke-Künstlern, denen er sich 1910 anschloss, und ihren Frauen / Modellen an den Moritzburger Teichen nahe Dresden oder am Meer. In Muellers Badeszenen ist der Wunsch spürbar, ein neues Paradies, zumindest ein Arkadien, auf der Leinwand festzuhalten, bzw. zu erschaffen.
Häufig wird der junge weibliche Körper in eine harmonische Natur eingeflochten. Bei der gestalterischen Umsetzung des Motivs kommt es zu einer Stilisierung der Frauenakte: schwarze kurze Haare, dunkle schräg gestellte Augen, hohe Wangenknochen, schmale, feingliedrige überlange Körper. Die Farbpalette ist auf wenige Farben reduziert, der Farbauftrag eher flächig. Auffällig sind weiterhin die hohe kompositorische Gestaltungskraft, die immer zu einem klar strukturierten Bildaufbau führen, und die kunstgeschichtlichen Anspielungen (z.B. auf Matisse oder Cezanne).
Durch die bewusst unakademische Verwendung von Rupfen als Maluntergrund und stumpfen Leimfarben bekommen viele Bilder einen fast freskohaften Ausdruck mit sinnlich haptischer Qualität.
Am Vorabend des 1. Weltkrieges kommt es mit dem Wachsen der Großstädte zu einer industriellen Revolution. Soziale Umbrüche, neue psychologische Erkenntnisse (Freud), Diskussionen über Geschlechter: All dies führte zu einer tiefen Verunsicherung des Menschen. Es entsteht der Wunsch, dieser Realität zu entfliehen und nach alternativen Lebensformen zu suchen. Einige Expressionisten fahren in die Südsee, um dort das vermeintliche Paradies zu finden, Muellers „Exotik-Erfahrungen“ sind eher gespeist von Reisen nach Osteuropa, Ausstellungsbesuchen über ägyptische Kunst und Begegnungen mit Sinti bei seinen Reisen (dazu später mehr). Der Einfluss des Kolonialismus auf die Kunst Otto Muellers ist bisher wenig erforscht.
Nun die Kommentierung einzelner Bilder:
Zwei im Mittelgrund des Bildes in der linken Bildhälfte stehende Frauen, von denen die linke auf jeden Fall unbekleidet ist, führen auf einer grünen Fläche hinter zwei sich kreuzenden Baumstämmen unweit eines Gewässers ein Gespräch – soweit der Bildinhalt. Fast könnte man die Frauen beim schnellen Hingucken übersehen, da ihre Körper nur unvollständig umrissen sind und sie sich aufgrund der reduzierten Farbgebung kaum von der Umgebung abheben. Allein die dunklen Haare, die eine (zur damaligen Zeit) modische Bubikopf-Frisur andeuten, treten hervor. Die Brauntöne dominieren den Himmel und die schwarz umrandeten Bäume und Pflanzen, das Blattwerk bekommt Grüntöne. Mit hellen Blautönen wird ein Gewässer angedeutet, hinter dem ein Ufer erahnbar ist. Eine dunkle braune Fläche, die an eine Wolke, aber auch an einen großen Ast denken lässt, überspannt bogenartig die Szene. Diese Bogenform korrespondiert mit der Biegung des rechten Baumes und bildet die eine Flanke eines das Bild überspannenden Kreuzes, dessen 2. Flanke der linke Baum bildet. Insgesamt scheint das Bild in einer schnellen, spontanen Malweise entstanden zu sein; fast überall ist noch das grobe Material der Untergrundes, der Rupfen erkennbar. An einigen Stellen ist der Untergrund ganz von Farbe unberührt. Die grünen Pflanzen erwecken auf Grund der Blattgröße v.a. am oberen Bildrand einen exotischen Eindruck.
Wie ist das Bild nun zu verstehen? Soll hier ein Idylle, eine Mensch-Natur-Harmonie dargestellt werden? Natürlich deutet einiges darauf hin: zwei Mädchenakte in einer (halb-) exotischen Umgebung, die sich auch farblich in die Umgebung einfügen – da liegt der Gedanke an Arkadien nahe. Doch die Harmonie ist nicht ungetrübt:
Strahlen die Brauntöne des Bildes einerseits Wärme und Harmonie aus, so lassen die dunkleren braunen Flächen oberhalb der Frauen an Gewitterwolken denken. Auch die Komposition scheint auf den ersten Blick mit dem Betonen der Diagonalen, der Anspielung auf die Proportion des goldenen Schnitts durch den Horizont oberhalb des Gewässers usw. Ausgeglichenes zu verstärken. Doch warum sind die Frauen recht unscheinbar in die linke Bildhälfte geschoben? Die Bäume nähern sich zwar Diagonalen an, aber vor allem bilden sie ein X, als ob der nähere Zutritt (den Betrachtenden) verboten ist. Insgesamt haftet der Landschaft etwas Ungeordnetes, Dschungelartiges an.
Wie ist die Begegnung der beiden Frauen zu deuten? Ihre Frisur deutet an, dass es sich um modisch bewusste Frauen handelt. Auf alle weiteren weiblichen Attribute, die eine erotische Wirkung auf die Betrachtenden haben könnten, wird verzichtet. Fast androgyn sind die Körper. Auch ihrer stehenden Haltung haftet etwas wenig Entspanntes, fast Beunruhigendes inne (wie entwickelt sich die Szene weiter?).
Könnte es sein, dass der Maler zwar eine Idylle zeigen wollte, die beobachtete Realität vor Ort ihn aber zu einer differenzierteren Aussage gedrängt hat?
Welches Bild sich fügt, wenn allein der Wunsch bzw. die Phantasie den Pinsel führt, lässt sich an dem „Sitzenden Akt unter Bäumen“ erkennen.
Fast an die Rückenfiguren von Caspar David Friedrich erinnernd hat die Frau eine weite Landschaft mit (wahrscheinlich) einem See und einer Bergkette im Hintergrund vor sich. Umstellt ist die im Gras (?) Sitzende von skizzenhaft angedeuteten Büschen und sechs hoch aufragenden Bäumen, die merkwürdigerweise im oberen Drittel einen Grünton in den Stämmen aufweisen. Auch der vermutete See trägt einen unerwartet grünen Farbton, während die sehr flach gehaltene hintere Landschaft mit dem Himmel einen Violettton aufweist. Entgegen den gedämpften Farben des Hintergrunds wird die Fläche vor der Sitzenden, die unteren Baumstämme und die Frau selbst mit einem unerklärlichen hellen warmen Licht beschienen. Die warmen Brauntöne der Bäume und der Nackten im Kontrast zum Grün der Natur erzeugen die friedliche Grundstimmung eines warmen Sommertages.
Die Farbgebung und die damit verbundene Lichtführung wollen nicht impressionistisch einen bestimmten Augenblick wiedergeben, zu unnatürlich sind v.a. der Hintergrund und die grünen Baumstämme dargestellt. In diesem Bild wird von Mueller eine märchenhafte Wunschwelt konstruiert.
Fragen wie: Mit welcher Absicht hat die Frau gerade diesen Sitzplatz gewählt, zu dem es keinen Weg zu geben scheint? Wieso sind keine Gegenstände wie Kleidung oder Handtuch auf dem Bild zu entdecken? Ist sie traurig, einsam, oder genießt sie den unbeschwerten kleidungsfreien Aufenthalt unter den Bäumen in der wärmenden Sonne? Nein! Diese und ähnliche Fragen, die einen konkreten Handlungszusammenhang herstellen wollen, kann und darf man nicht an dieses Bild stellen. Allein die harmonische Resonanz zwischen der Frau und der sie umgebenden Natur soll dargestellt werden.
Im Vergleich der beiden besprochenen Bilder will ich gestehen, dass ich die Phantasie provozierende Mehrdeutigkeit des ersten Bildes der mir kitschig erscheinenden Idylle des zweiten vorziehe.
Schwieriger und wahrscheinlich individuell unterschiedlicher fällt die Einordnung des linken Bildes aus.
Hier wird ein intimer Moment zwischen drei unbekleideten Frauen beobachtet. Die drei stilisierten Frauen, die mit ihren Frisuren modern und selbstbewusst wirken, sind in ein Gespräch vertieft. V.a da eine der Frauen mit dem Rücken zu uns sitzt, ist mein Eindruck, dass die Betrachtenden auch auf Grund ihres Blickwinkels und der Nähe zu den Dargestellten zu (männlichen) Voyeuren gemacht werden – aber das, ich habe es schon angedeutet, kann auch anders gesehen und bewertet werden.
Eindeutig stärker sexualisierend – v.a. durch die Blickrichtung und Haltung der Figuren – ist das folgende Bild, das aus heutiger Sicht wahrscheinlich auf Vorbehalte stoßen wird.
Wie der Leser sicher gemerkt hat, provozieren mich die Bildern von Otto Mueller zu unterschiedlichen Wertungen. Warum? Sie sprechen eine zu allen Zeiten virulente Wunschwelt an, in der der Mensch noch in Harmonie mit der Natur lebt; in der die erotische Wirkung junger nackter Körper ein unschuldiger natürlicher Reiz ist. Doch ein unschuldiger männlicher Blick auf nackte Badende ist nicht möglich, genauso wenig, wie es ein unentfremdetes Verhältnis des Menschen zur Natur nicht gibt. Mich können nur die Bilder von Mueller begeistern, in denen das Utopische durch Widersprüchliches gebrochen ist.
Muellers „Z..-Mappe“
In einem anderen Ausstellungsbereich thematisieren und kritisieren die Ausstellungsmachenden Bilder von Otto Mueller, die dessen stereotypes, romantisierendes und diskrininierendes Bild über die Sint:zze und Rom:nja zeigen. Ein Aufsatz von Valentina Bay und Anna Mirga-Kruszelnicka in dem ausgezeichneten Katalog geht scharf mit diesen Bildern aus heutiger Sicht zu Gericht. In dem Bild „Zwei Z….mächen im Wohnraum“ werden z. B. zwei Frauen nackt bzw. halb-bekleidet in einem Innenraum hinter einem Tisch gezeigt. Doch die öffentliche Nacktheit gilt innerhalb der Rom:nja-Kultur als Tabu.
Eine künstlerische Antwort auf Muellers Bilder ist das auf der gegenüberliegenden Wand aufgehängte große Textil-Bild „Morning Tea“ von Malgorzata Mirga-Tas, das durch das Motiv und die verwendeten Materialien ein emanzipiertes Bild der Sint:zze und Rom:nja zeigt.
Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob diese Gegenüberstellung und die unterschiedlichen Methoden bei der Darbietung von Bildtiteln mit dem diskriminierenden Z-Wort ausreicht, um die Wirkung von Bildern zu neutralisieren, die mittels Erotisierung und Klischeeverstärkung lebende Sint:zze und Rom:nja beleidigen und rassistische Vorurteilsstrukturen verstärken. Man verlässt diesen Ausstellungsbereich mit einem mulmigen Gefühl und der Befürchtung, ob nicht Besucher*innen mit einem rassistischen Weltbild in Muellers Bilder eine Bestätigung ihre Vorstellungen sehen könnten. Doch wie mit diesen Bildern umgehen?
Zum Schluss soll auf einen Raum hingewiesen werden, den die Künstlerin, Kommunikationswissenschaftlerin und Autorin Natasha A. Kelly (*1973) geschaffen hat, in dem sie sich mittels unterschiedlicher Herangehensweisen mit Otto Muellers Verbindung zum Kolonialismus auseinandersetzt (mehr wird nicht verraten).
Fassen wir zusammen: Die Ausstellung kritisiert zurecht Muellers rassifizierende Darstellungen von Sint:zze und Rom:nja. Bezüglich der Beurteilung der Badeszenen müssen die Besucher*innen ihren eigenen Kompass aktivieren. Sicherlich sind einige Bilder unbekleideter Frauen dem damaligen Zeitgeist einer anti-bürgerlichen Freikörper-Kultur der Brücke-Künstler geschuldet (Muellers Bilder wurden von den Nazis als „entartet“ diffamiert), anderen Bildern gelingt der Vorschein eines naturnäheren Lebens, ohne ins Kitschige abzugleiten, aber bei vielen Bildern ist – aus heutiger Sicht – ein voyeurhaft männlicher Blick dominant.
Die Ausstellung läuft noch bis zum 2.2.2025!