Die Gegenwart der Vergangenheit

Anmerkungen zum Verständnis des Bildes „Encode VII“ von Katharina Sieverding

Lothar Adam

Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeigt im K21 bis zum 23.3.2025 einen Überblick über das Gesamtwerk von Katharina Sieverding – die dritte Ausstellung der vielfach ausgezeichneten, 1941 in Prag geborenen und heute in Düsseldorf lebenden Pionierin der Fotografie.

Katharina Sieverding © Katharina Sieverding, VG Bild-Kunst Bonn 2020 Foto © Klaus Mettig, VG Bild-Kunst Bonn 2020
Katharina Sieverding, Installationsansicht, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 2024, Foto: Achim Kukulies

Bekannt wurde die Beuys-Schülerin mit monumentalen, seriellen Reihen von Selbstporträts, die die Künstlerin technisch bearbeitet und durch Mehrfachbelichtungen, Überblendungen, Spiegelungen, Filter und Solarisation verfremdet. Häufiger Ausgangspunkt ihrer Arbeiten sind Polaroids von 1969, die zum ersten Mal in einer Ausstellung gezeigt werden.

Ihr Werk umfasst neben den bearbeiteten Schwarz-Weiß-Fotografien und Diaprojektionen auch performative Arbeiten, Installationen, Filme, Videos und Plakataktionen, wobei alle Arbeiten im eigenen Studio mit ihrem Partner Klaus Mettig entstanden sind.

Ich muss zugeben, dass mich Katharina Sieverdings großformatige Close-ups ihres Gesichts weniger beeindruckt haben als ihre politischen Arbeiten, die in ihren Dimensionen an Bildstrategien von Außenwerbung anknüpfen: Der Blick der Betrachtenden wird angezogen und eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt erzwungen.

Katharina Sieverding, Installationsansicht, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 2024, Foto: Bozica Babic

Im Folgenden möchte ich meine Auseinandersetzung mit einem Bild nachzeichnen, das mich zunächst irritiert hat, dann aber, je länger meine Beschäftigung andauerte, eine immer größer werdende Faszination auf mich ausübte.

  1. Annäherung

Katharina Sieverding, eigene Installationsansicht, Encode VII, 2006, Digitaldruck, 252 x 356 cm, Privatsammlung, Düsseldorf/Berlin

Bei einer Annäherung an das große Schwarz-Weiß-Bild „Encode VII“ braucht man einige Zeit, um zu erkennen, dass hier mindestens zwei Fotografien ineinander verzahnt sind. Relativ schnell ist in der unteren Bildhälfte das Stelenfeld des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden (Holocaust-Mahnmal) identifizierbar. Das Mahnmal, das von Peter Eisenman entworfen wurde, besteht aus 2711 quaderförmigen Betonstelen. Es wurde zwischen 2003 und Frühjahr 2005 auf einer rund 19.000 m² großen Fläche südlich des Brandenburger Tors errichtet.

Holocaust-Mahnmal 2006
Das Bronzemodell des Konzentrationslagers Sachsenhausen, das sich heute auf dem Gelände der Gedenkstätte Sachsenhausen befindet, wurde von dem Künstler und Bildhauer Volkmar Haase geschaffen.

Im oberen Bilddrittel der Collage von Katharina Sieverding hat man zunächst – bei der Fokussierung des Blicks auf die Bildmitte – durch die strahlenförmigen geometrischen Längskörper den Eindruck, dass tunnelartig ein Bogen über die Szene gespannt ist. Doch schnell entdeckt man in den oberen Bildecken architektonische Gebilde, die einer Luftaufnahme vielleicht von einer Fabrikanlage entnommen worden sind, wodurch die zur Mitte gerichteten Formen zu Häuserblöcken werden. Also haben wir es mit einer Collage mindestens zweier Fotografien zu tun.

Oben – und bei genauerer Betrachtung auch unten – umrandet eine Aufnahme des Bronzemodells des Konzentrationslager Sachsenhausen das dadurch eingebettete Holocaust Mahnmal. Schwarze Linien – nachträglich manuell eingefügt – verlängern vorhandene Schatten auf der linken Bildhälfte und verstärken die angesprochene Bogenillusion. Die dunkleren Flächen und der weiße senkrechte Streifen in der oberen linken Ecke scheinen später ergänzt worden zu sein. Möglicherweise wurden auch die Schattenfiguren am unteren Rand manuell hinzugefügt, wodurch die beiden Ausgangsfotografien stärker ineinander verzahnt sind. Insgesamt lassen die Lichtverhältnisse auf einen Sonnentag mit Schatten erzeugenden Wolken schließen.


Zusammengefasst: Eine Aufnahme des Holocaust-Mahnmals wurde in eine Aufnahme des Bronzemodells des KZ Sachsenhausen integriert und weiter manuell bearbeitet.

2. Analyse

Das KZ Sachsenhausen wurde im Sommer 1936 von Häftlingen aus den Emslandlagern errichtet.
Zwischen 1936 und 1945 waren im KZ Sachsenhausen mehr als 200.000 Menschen inhaftiert. Unter ihnen befanden sich politische Gegner des NS-Regimes, Angehörige der von den Nationalsozialisten als rassisch oder biologisch minderwertig erklärten Gruppen wie Juden, Sinti und Roma, als „Homosexuelle“ Verfolgte sowie sogenannte „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“. Zehntausende Häftlinge kamen im KZ Sachsenhausen durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, medizinische Versuche und Misshandlungen um oder wurden Opfer von systematischen Vernichtungsaktionen der SS.
Am Reißbrett, von dem SS-Architekten und Bauingenieur Hans Kammler geplant, sollte die als idealtypisches KZ konzipierte Anlage dem Weltbild der SS architektonischen Ausdruck geben und die Häftlinge auch symbolisch der absoluten Macht der SS unterwerfen.
Der Begriff „Idealtypus-KZ“ bezieht sich auf eine systematische Bauweise und Organisationsstruktur. Die Lager waren sternförmig aufgebaut, um eine zentrale Überwachung zu ermöglichen. Ein zentraler Wachturm, oft „Turm A“ genannt, bot eine umfassende Sicht auf das gesamte Lagergelände. Von diesem Punkt aus konnten die SS-Wachen das Lager übersehen und bei Fluchtversuchen sofort eingreifen. Der Aufbau vermittelte durch den zentralen Turm und das militärische Design eine Atmosphäre von totaler Kontrolle und Überwachung. Dies sollte die Häftlinge zusätzlich psychisch unterdrücken und ihren Widerstandswillen brechen. Durch diese Merkmale wurde das „Idealtypus-KZ“ zur Blaupause für andere Konzentrationslager wie Buchenwald und später auch für die Vernichtungslager im besetzten Polen.

Geht man von dem Bronzemodell aus, befindet sich das Holocaust-Mahnmal – durch Katharina Sieverdings Collage – auf dem Exerzierplatz des KZ Sachsenhausens.

Luftaufnahme vom Lager (1943 von der britischen Royal Air Force aufgenommen). Das Exerzierplatz wurde von mir rot umrandet.

Der Exerzierplatz im Konzentrationslager Sachsenhausen hatte eine zentrale Funktion in der Systematik der Unterdrückung und Demütigung der Häftlinge. Dieser Platz wurde von der SS als Ort für verschiedene Formen körperlicher und psychischer Qualen genutzt. Die Häftlinge mussten dort stundenlang Appelle über sich ergehen lassen und oft in starrer Haltung stehen, unabhängig vom Wetter. Diese Appelle dienten der Zählung und Disziplinierung und waren bewusst so gestaltet, dass sie die Häftlinge körperlich erschöpften und einschüchterten.
Ein weiteres Element des Exerzierplatzes war der sogenannte „Sport“, eine zynische Bezeichnung der SS für extrem harte, militärische Übungen, die die Gefangenen unter ständiger Aufsicht und oft unter Schlägen ausführen mussten. Die „Übungen“ – wie Laufen, Marschieren, Bücken und Springen – wurden mit dem Ziel durchgeführt, die Häftlinge zu demütigen und körperlich zu brechen. Der Exerzierplatz war somit ein Ort des Terrors und der systematischen Quälerei.

Katharina Sieverding hat ein Foto des Holocaust Mahnmals ausgewählt, in dem dieses noch im Bau ist, wie die unteren Bauzäune erkennen lassen. Geht man wieder von der Lage im Bronzemodell aus, so steht dieser Zaun hinter den kleinen Einfamilienhäusern des Modells genau an der Stelle, wo die Umzäunungsanlage des KZ(s) angelegt war.
Rund um das gesamte Lager, einschließlich des Exerzierplatzes, verlief ein Hochspannungszaun. Dieser Zaun stand unter elektrischer Spannung und stellte für die Häftlinge eine ständige tödliche Bedrohung dar. Diese Umzäunung und die dazugehörigen Sicherheitsmaßnahmen mit Stacheldrahtzäunen, Wachttürmen, „Todesstreifen“ und Beleuchtung machten eine Flucht praktisch unmöglich und schufen eine Atmosphäre von Angst und absoluter Kontrolle.

Die Herausforderung der Collage an die Betrachtenden ergibt sich aus ihrem Aufbau: Zwei Fotos, die jeweils die unvorstellbare Grausamkeit der Nazis v.a. gegenüber Juden thematisieren, werden räumlich so verzahnt, dass eine neue räumliche Ordnung entsteht, in der nicht nur die jeweils sichtbaren Anteile, sondern auch die fehlenden bzw. überdeckten Teile des jeweils anderen Bildes mitgedacht werden sollen.

3. Interpretationen

Die gedanklichen Verknüpfungen, die durch die Collage angeregt werden, können in verschiedene Richtungen gehen:

Soll das Stelenfeld an das Schicksal der ermordeten Juden erinnern und mahnen, so ist deren Appell an die Besuchenden doch sehr allgemein, abstrakt und fördert selbst beim Durchschreiten zwar vielleicht emotional die Bereitschaft, sich weiter mit dem grausamen Schicksal der Juden in der NS-Zeit auseinanderzusetzen, aber eine tiefergehende Betroffenheit wird sich meines Erachtens nur selten einstellen. (Auf die grundsätzliche Frage, ob es möglich ist, auf die Ermordung von 6 Millionen Juden künstlerisch angemessen zu reagieren, kann hier nicht eingegangen werden.)
In der Collage von Katharina Sieverding wird durch die optische Verzahnung des KZ Sachsenhausen mit dem Holocaust-Mahnmal bei den Betrachtenden die Bereitschaft gefördert, auch eine inhaltliche Brücke zwischen den beiden Orten zu schlagen. Die Grausamkeit der Nazis bekommt durch die konkrete Verortung der Grausamkeiten im KZ Sachsenhausen ein Gesicht, sie wird fassbarer und konkreter.

Im oberen Bilddrittel fällt in der Mitte des Bildes von Katharina Sieverding die strahlenförmige Ausrichtung der Barackenzeilen in der Dreiecksform des KZ(s) Sachsenhausen auf. Die Stelen des Holocaust-Mahnmals scheinen spiegelbildlich dieser zentralperspektivischen Ausrichtung zu folgen. Wir verbinden normalerweise mit der Zentralperspektive und geometrischen (Dreiecks-)Formen die Epoche der Renaissance und damit eine der Humanität verpflichteten Geschichtsphase. Das Stelenfeld mit seinem humanen Anliegen passt zu dieser Assoziationskette. Aber wie passt zu dieser der mit den gleichen Formen gebaute „ Idealtypus“ des Konzentrationslagers Sachsenhausen? Offensichtlich kann die von der Antike entwickelte und in der Renaissance aufgegriffene Formensprache auch für eine Architektur verwendet werden, die das Inhumanste, was Menschen sich ausdenken können, verkörpert: ein Konzentrationslager. Deutet die Collage von Katharina Sievering somit (eine auch von der Kritischen Theorie konstatierte Dialektik der Aufklärung) an, dass es eben auch die andere Seite unserer aufgeklärten Vernunft gibt, die, zur Rationalität pervertiert, den Bau von hoch effektiven Überwachungssystemen und effizienten Tötungsfabriken ermöglicht?

Aufgefallen ist mir noch, dass die Häuser, die das Stelenfeld nach hinten begrenzen, in dieser Anordnung in Berlin nicht existieren. Die Häuser, die im Rechteck um das Mahnmal stehen, wurden von Sieverding zu einem kompakten horizontalen Häuserblock verfugt und durch weitere Gebäude ergänzt, so dass sie eine geschlossene Grenze zum hinter ihm liegenden Zentrum von Berlin bilden.

Ausschnitt aus Encode VII

Wenden wir wieder die Methode der fiktiven lokalen Überlagerungen an, so bildet die Häuserzeile hinter dem Mahnmal die Grenze zum Hauptlager. Ein Gebäude in dieser Häuserzeile wird besonders hervorgehoben, da auf ihn alle Fluchtlinien der oberen und der unteren Bildhälfte hinauslaufen. Dieses Gebäude steht genau an der Stelle, an der man im Bronzemodell auf den berüchtigten Turm A triff, auf dessen Eingangstor die zynische Parole „Arbeit macht frei“ stand.

Modell Sachsenhausen mit eigenen farbigen Markierungen
KZ Sachsenhausen, Häftlinge vor Lagertor (Foto aus der NS-Zeit)
Stark vergrößerter Ausschnitt des Gebäudes aus der Mitte der Häuserzeile in Encode VII

Haben die Fensterfronten beider Gebäude nicht gewisse Ähnlichkeiten (was auch zu unserem vorhergehendem Gedankengang passen würde)?
Auf jedem Fall ist das Gelände des KZ Sachsenhausen hinter dem Eingangsturm der Baugrund für die Innenstadt von Berlin. Der damit verbundene Gedanke könnte sein: Ob sichtbar oder nicht, die Gegenwart fußt auf einer grausamen NS-Vergangenheit. Man kann mit modernen Bauten versuchen, dem Gedenken an die NS-Zeit einen Riegel vorzuschieben, aber selbst mit den modernsten Betonburgen, lässt sich der historische Rückfall in die Barbarei nicht ganz verdrängen. Durch die Fenster schleicht sich das Gern-Verdrängte wieder an.
Sachsenhausen liegt nicht nur 12 km nördlich vor der Stadt Berlin, sondern auch unter ihrem Fundament.

Ich fasse zusammen:
Die politischen Bilder von Katharina Sieverding gehen von Fotografien aus, die als bekannte „Gedächtnisbilder“ einen Bezug zu unserer Vergangenheit haben, sie werden in einem künstlerischen Prozess zu Plakaten mit einer aktuellen Brisanz transformiert. Sie können eine zukünftige Relevanz erlangen, wenn es den Betrachtenden gelingt, sie zu entschlüsseln: Encode them.

Zum Schluss

Nach soviel Kopfarbeit sollten Sie in der Ausstellung aber nicht das Video versäumen, „Die Sonne um Mitternacht (zu) schauen“. Ca. 200 000 NASA-Bilder der Sonne aus den Jahren 2010 bis 2015 wurden zu einem Film animiert. Die Bilder dokumentieren die Aktivität der Sonne, genauer: die Kraftlinien ihres solaren Magnetfeldes. Dass es Katharina Sieverding nicht um eine naturwissenschaftliche Studie geht, deutet schon der auf alte Mysterien zurückgehende Titel an – mehr sei nicht verraten. Hier aber ein kleiner Ausschnitt:

Noch ein Hinweis: Leicht übersehen werden könnte die im Eingangsbereich auf dem Kubus über der Piazza schwebende Arbeit von 1983: XXIV-I/193 Kontinentalkern I, Die letzten Knöpfe sind gedrückt .

Katharina Sieverding, Installationsansicht, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 2024, Foto: Achim Kukulies

Das Bild zeigt den B-29-Superfortress-Bomber der amerikanischen Air-Forces, der am 6. August 1945 die erste Atombombe auf Hiroshima abwarf.

Die Ausstellung geht noch bis zum 23.3.2025!

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