Privates wird politisch in den Bildern von Paula Rego
Lothar Adam
„Wenn man Bilder macht, geht es genauso sehr um das, was in einem selbst vorgeht, wie um das, was um einen herum geschieht. Darum, dass man Geheimnisse und Geschichten hat, die man in den Bildern zeigen möchte.“ Paula Rego

Nicht nur in Amerika, sondern auch zunehmend in der BRD gibt es den von der Neuen-Rechten unterstützten Trend, gegen die Wokeness im Kulturbetrieb Stimmung zu machen. Der Kolumnist Oliver Koerner von Gustorf fordert im Kunstmagazin „Monopol“ als Strategie gegen diesen Hass auf einen progressiven, liberalen Kunstbetrieb eine Kunst, „die eine neue, wirklich politische Sprache erfindet“.
Zum Glück muss diese „wirklich politische Sprache“ nicht aus dem Nichts neu erfunden werden. Denn einerseits wohnt jeder großen Kunst ein politischer Impuls inne, wenn sie einen ästhetischen Eindruck erzeugt, der überzeugend auf die subjektiven Erfahrungen des Künstlers / der Künstlerin Bezug nimmt oder neue Perspektiven auf die menschliche Existenz ermöglicht. Andererseits gibt es künstlerische Werke, die gesellschaftliche, politische oder soziale Themen direkt ansprechen mit der Absicht, zum Nachdenken, Diskutieren oder Handeln anzuregen.
Es fällt auf, dass unter den aktuellen politisch relevanten Ausstellungen viele von Künstlerinnen sind, die aus feministischer Perspektive gesellschaftliche Missstände aufzeigen. So wird im Düsseldorfer K21 nach der Ausstellung von Katharina Sieverding aktuell das Werk von Julie Mehretu gezeigt. Das Folkwang Museum zeigte Retrospektiven 2015 über Joan Mitchell, 2019 über Nancy Spero (s. Ausstellungskommentar) und 2022/23 über Helen Frankenthaler.
Paula Rego (1935-2022) gehört zu den wichtigsten Künstlerinnen Portugals und Großbritanniens. Die Ausstellung im Folkwang Museum ist eine Retrospektive mit 130 Werken aus 7 Jahrzehnten, von den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts bis in die späten 2010er Jahren.
Paula Rego wuchs in Lissabon in einer wohlhabenden, anglophilen Familie auf. Von 1945 bis 1951 besuchte sie die englische Schule St. Julian’s School in Carcavelod nahe Lissabon. Im folgenden Jahr ging sie nach England, wo sie von 1952 bis 1956 an der Slade School of Fine Art studierte. Dort lernte sie auch ihren späteren Ehemann Victor Willing kennen. Nach anfänglichem Pendeln zwischen England und dem Wohnsitz in Portugal, zog das Paar 1975 permanent nach London.
Die Bilder von Paula Rego, die in der deutschen Öffentlichkeit (noch) nicht sehr bekannt sind, stechen durch Themen von aktueller Brisanz hervor: In z. T. drastischer Art problematisieren sie Gewalt und Sexualität und erinnern an Bilder von Francisco Goya. Doch werden in den Bildern von Rego die Frauen meist nicht als zu bemitleidende Opfer gezeigt, sondern sie begegnen ihrem Schicksal selbstbewusst, und indem sie zeigen, dass es nicht um Einzelschicksale geht, sondern dass viele Frauen unter gesellschaftlicher Gewalt leiden, sind sie auch Gemeinschaft stiftend. Zu Anknüpfungspunkten werden der Künstlerin Märchenmotive und Comics, Carlo Collodis Pinocchio, Kinderreime aus englischen Kinderzimmern, aber auch Motive der „hohen Kunst“. Die Ausstellung will mit ihren 10 thematischen Blöcken das Zusammenspiel von Privatem mit Politischem in den Focus nehmen. Es geht dabei häufig um Fragen von Macht und Ohnmacht, um Täter und Opfer, wobei sich in den Werken Regos die Rollen durchaus umdrehen können, bzw. an Eindeutigkeit verlieren.

Ein Diskurs gehört zum Werk von Paula Rego: Eine Grafikserie (Abortion-Serie) von 1998 über das Abtreibungsthema, die auch in der Ausstellung gezeigt wird, soll in Portugal bei einer 2. Abstimmung 2007 der Liberalisierung von Abtreibung zur mehrheitlichen Annahme verholfen haben. Belegen lässt sich der Zusammenhang nicht, aber er verweist auf ein Potential von Kunst und veranschaulicht das Motto der Ausstellung: The Personal and The Political.
Die Ausstellung über Paula Rego im Folkwang Museum Essen hat mich deshalb besonders beeindruckt, weil die Künstlerin nicht nur das Leiden von Frauen v.a. unter der spanischen, katholisch geprägten Diktatur überzeugend thematisiert, sondern weil nachvollziehbar wird, wie Paula Rego beim künstlerischen Schaffen mit den traditionellen Maltechniken ringt, sie verändert und neue erfindet. Das Kunstmachen selbst politisiert sich, wenn sie z. B. durch das Ritzen auf der Druckplatte ihren Schmerzerfahrungen durch die Diktatur Ausdruck verleiht.

Die Collagen von Paula Rego spiegeln im wilden Zerreißen von Papier, im Aneinanderkleben und Überpinseln von Schnipseln die Fragmentierung der erfahrenen Lebenswelt wider

Die Pastellmalerei, häufig ein Mittel für Amateure, wird bei ihr zum Werkzeug des Widerstandes. Wir kommen darauf zurück.
Puppen werden vom Spielzeug zur Verkörperung von Gewalterfahrungen verfremdet.

Eines der Bilder, das mich besonders beeindruckt hat, möchte ich genauer vorstellen:
Paula Rego, Snow White on the Prince’s Horse, 1996, das sich auf das Märchen „Schneewittchen“ bezieht.
In dem Märchen von „Schneewittchen“, das mit leichten Variationen in vielen europäischen Ländern erzählt wird, geht es um ein schönes Mädchen namens Schneewittchen bzw. „Snow White“, das von ihrer eifersüchtigen Stiefmutter, der Königin, gehasst wird. Die Königin fragt ihren magischen Spiegel, wer die Schönste im Land sei, und als der Spiegel Schneewittchen als die Schönste bezeichnet, befiehlt sie einem Jäger, das Mädchen zu töten. Der Jäger hat Mitleid mit Schneewittchen und lässt sie entkommen. Schneewittchen findet Zuflucht bei sieben Zwergen, die im Wald leben. Die Königin entdeckt, dass Schneewittchen noch lebt, und versucht mehrmals, sie zu töten, unter anderem mit einem vergifteten Apfel. Schließlich fällt Schneewittchen in einen tiefen Schlaf, bis ein Prinz sie mit einem Kuss erweckt (In der weniger romantischen Erzähltradition der Brüder Grimm stolpert ein Diener des Prinzen beim Abtransport des gläsernen Sarges, wodurch das vergiftete Apfelstück herausfällt). Am Ende wird die böse Königin bestraft, und Schneewittchen und der Prinz leben glücklich zusammen.

Auf den ersten Blick scheint der Bildtitel „Snow White on the Prince’s Horse“ so gar nicht zu dem Bildinhalt zu passen. Weder kann man die Frau auf dem Bild beziehen auf das Bild von Schneewittchen in unserem Kopf, das die Brüder Grimm mit ihrer Märchenversion und schon gar nicht die kitschigen Disney-Verfilmungen geprägt haben, noch ist ein Pferd auf dem Bild zu erkennen. Na gut, bei dem Sitzmöbel könnte es sich um eine Art riesiges Holzgestell in Pferdeform handeln (mit dem Kopf rechts, außerhalb des Bildes), auf das eine Decke aus Fellstücken gelegt wurde. Eine selbstbewusste Frau mittleren Alters scheint auf dem Gestell vielleicht sexuelle Handlungen in einer aufrechten Sitzhaltung mit geöffneten und angewinkelten Beinen auszuführen. Ihr Blick ist schräg nach unten auf den Boden gerichtet; die Frau, ihren Gefühlen nachspürend, verweigert jeden Blickkontakt. Wenn man möchte, könnte man Anspielungen auf das Märchen in der dunklen Haarfarbe, dem Rot von Weste und Kopfbedeckung und in dem Weiß des Rockes der Frau finden; denn Schneewittchen wird beschrieben als Töchterlein, „so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, und so schwarzhaarig wie Ebenholz“. Dagegen bleiben andere Bilddetails rätselhaft. Wo spielt diese Szene mit dem bläulichen Hintergrund? Was hat es mit dem merkwürdigen Holzgestell, das die linke Hand der Frau umfasst, auf sich? Soll auf den Spiegel angespielt werden, durch den die Königin erfährt, dass sie nicht mehr die Schönste ist?
Versuchen wir uns das Märchen aus dem Blickwinkel des Bildes noch einmal zu vergegenwärtigen.
Bruno Bettelheim deutet in seinem berühmten Buch „Kinder brauchen Märchen“ das Schicksal von Schneewittchen psychoanalytisch als Entwicklungsprozess eines Kindes zur reifen, sexuell attraktiven Frau. Zu dem glücklichen Leben, in das Schneewittchen am Ende des Märchens aufbricht, gehören der Prinz, der sie zu seiner Frau nimmt, und die Todesstrafe für die eifersüchtige Stiefmutter, die mehrfach versucht hatte, ihre innerfamiliäre Konkurrentin zu ermorden.
Vor diesem Hintergrund könnten beide Hauptfiguren mit der zentralen Figur des Bildes gemeint sein:
Schneewittchen, die als reife Frau eine weitere Entwicklungsstufe ihrer Sexualität in der Selbstbefriedigung findet. Sie braucht keinen Mann mehr, sondern reitet alleine auf dem Pferd.
Aber auch die Stiefmutter könnte gemeint sein: Sie hat sich von ihrer Eifersucht auf die Stieftochter gelöst und kann eine autonome Form von Sexualität (er)leben. Sie braucht den Blick in den Spiegel nicht mehr. Der Rahmen ist leer.
Beide Deutungen haben gemeinsam, dass sie mit der provokant sexuellen Haltung der Frau ein sehr emanzipiertes Frauenbild andeuten, wobei ein Symbol männlicher Macht, das Pferd des Prinzen, sich in ein Objekt eigener Lust verwandelt. Deutet die Kleidung eine gewisse Orientierung an gesellschaftliche Normen und Rollen noch an, so sind die nackten Füße, die an Caravaggios Figurendarstellung erinnern, schon der erste Hinweis auf eine Rebellion gegen gesellschaftliche Standards. Insgesamt kann in der Destruktion der Klischeevorstellung von Schneewittchen einerseits die versteckte Botschaft des Märchens im Sinne Bettelheims entschlüsselt , andererseits kann durch sie eine weitere Möglichkeit der Entfaltung von weiblicher Sexualität angedeutet werden: die lustvolle Selbstbefriedigung.
Das Bild entstand 1996 und zeigt die ab 1994 von Rego radikal veränderte Herangehensweise an die Malerei: Sie arbeitete seit diesem Zeitpunkt mit Pastellkreide, die ihren Arbeiten eine Materialität verleiht, die sie in Öl oder Acryl nicht erreicht hatte. Die Nutzung der Pastellkreide erforderte eine strukturelle Verstärkung des Papiers, das deshalb auf eine Aluminiumplatte geklebt wurde. Die Pastellkreiden als bevorzugtes Material ermöglichten Rego die Einführung einer innovativen Farbpalette. Rego trug die Pigmente der Pastellkreide mit den Fingern in mehreren Schichten übereinander auf und verblendete sie in sanften Farbverläufen.
In dem besprochenen Bild wird die Frau naturalistisch dargestellt, ihre fleischlichen Aspekte (s. Füße) werden hervorhoben und die taktilen Sinne der Betrachter:innen, v.a bei der sorgfältigen Gestaltung der Bekleidung der Frau und den langhaarigen Fellstücken, direkt angesprochen.
Der innovative Umgang mit der „guten alten“ Pastellkreide korrespondiert mit der Neudeutung eines alten Märchenstoffes und verleiht dem Bild eine Ausdruckskraft, die mich tief beeindruckt hat.
Insgesamt kann in dieser Ausstellung eine politische Künstlerin entdeckt werden, die es den Betrachter:innen nicht immer leicht macht. Man braucht einige Zeit, um das jeweils Besondere in der Maltechnik und den historischen, literarischen und kunsthistorischen Bezügen der Bilder zu verstehen. Auch kann die Drastik sexueller Gewalt in einigen Bildern irritieren. Da die aktuelle Relevanz vieler Bilder augenfällig ist, verlässt man diese Ausstellung aber mit großem Gewinn.
Und was ist mit unserer Eingangsfrage, nach einer neuen, wirklich politischen Sprache in der Kunst?
Politisch sind Regos Bilder auf jeden Fall; das Neue, Innovative findet bei ihr aber dort eine Grenze, wo die Gefahr besteht, dass die Kommunikation mit den Betrachtenden abbrechen könnte.
Zur Vorbereitung auf den Besuch bietet es sich an, die App des Folkwang-Museums zu installieren und die Kommentare zu dieser Ausstellung zu hören. Auch zu empfehlen ist der Katalog der Ausstellung.