Eine Abhandlung über die Schleier
Klaus-Peter Busse
Das Museum Ludwig zeigt in Köln die Werke der fünf Freunde John Cage, Merce Cunningham, Jasper Johns, Robert Rauschenberg und Cy Twombly.
Der Schleier hat in den Weltkulturen sehr unterschiedliche Bedeutungen. Er soll schützen, wie ein dünnes Tuch etwas verdecken, was dennoch sichtbar ist, oder auf etwas hinweisen, vielleicht auf Reinheit. Der Schleier macht auch etwas unklar und undeutlich, wenn es schleierhaft ist. So ist es ein sprachliches Bild, sich die Beschäftigung mit offener und schwieriger Kunst als eine Auseinandersetzung mit einem Schleier vorzustellen. Und spannend wird es, wenn dieser Schleier gelüftet wird und Kuratoren sich auf den Weg machen, hinter den Schleier zu schauen oder ihn zu entkleiden, um die Bedeutungen von Kunstwerken zu erkennen, die sich hinter den Schleiern verbergen, die sich in den Jahren ihrer Geschichte über sie gelegt haben. Das unternehmen Achim Hochdörfer vom Museum Brandhorst in München und Yilmar Dziewior, die im Museum Ludwig in Köln die Werke von John Cage, Merce Cunningham, Jasper Johns, Robert Rauschenberg und Cy Twombly nach einer langen Zeit der Vorbereitung ausstellen. Man kennt nicht alle historischen Hintergründe: Die fünf Künstler waren Freunde.
Wenn auch ihre Werke sehr unterschiedlich sind, gibt es Zusammenhänge und Berührungen, die die Ausstellung zeigt. Und es ist kein Wunder, dass Cy Twombly 1968 ein sehr großes Bild gemalt hat, das er Treatise on the Veil nannte, Abhandlung über den Schleier also, das heute im Besitz des Museums Ludwig ist, zum kulturellen Erbe der Stadt Köln gehört und selbstverständlich in der Ausstellung gezeigt wird. Mit diesem Gemälde ist man mitten in der Zeit, um die es geht, und mittendrin im Problem. Denn dieses Bild hat schon viele Personen fragen lassen, was die weißen Kreidespuren auf schwarzem Grund bedeuten.
Die, man muss es sagen: wunderschöne und beeindruckende Ausstellung lüftet die Schleier um die sensiblen Werke der fünf Freunde und leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis moderner Kunst. Wie kann man man mit ihr umgehen, wenn ihre Werke verschlossen und hermetisch sind? Auch diese wichtige Frage macht die Ausstellung für alle Besucherkreise interessant, nicht nur für junge Menschen, nach deren Interesse sie in besonderer Weise fragt. Hinter den Schleiern liegen künstlerische Antworten auf dringende Fragen der Zeit.
Die fünf Freunde lernten sich in den 1950er Jahren in den USA kennen. Die Maler, Zeichner, Tänzer und Musiker waren jung, neugierig und wollten die Kunst verändern. Hierzu mussten sie eigene Wege finden, vor allem künstlerische Sprachen, die ihre Positionen kennzeichneten – schwierig genug in dieser Zeit, als schon die Werke von Jackson Pollock, Franz Kline und Robert Motherwell bekannt waren. Cy Twombly und Robert Rauschenberg trafen sich im berühmten Black Mountain College, abseits der Metropolen in den Bergen von North Carolina gelegen, und erprobten dort neue Wege der Malerei. Zu ihnen stießen der Choreograph Merc Cunningham und John Cage, der dort experimentelle Musik entwickelte. Das am College zum ersten Mal aufgeführte Theater Piece No. 1 gilt als der kunsthistorische Beginn von Performance und Happening als Kunstgattungen.
Das künstlerische Arkadien der Hochschule schaffte einen Freiraum für Kreativität und kommunikativen Austausch fern von den Zwängen der amerikanischen Wirklichkeit in diesen Jahren, die von dem Kalten Krieg und der Angst vor Andersdenkenden geprägt waren. Einerseits förderten die USA die damals zeitgenössische Kunst durch Ausstellungstourneen und sahen im Western-Star Kirk Douglas den passenden Darsteller des freien Menschen, als er Vincent van Gogh spielte. Andererseits ging man heuchlerisch und massiv gegen alle Personen vor, die man im Dunstkreis des Kommunismus vermutete. Am Black Mountain College spürte man wohl nichts davon. Sogar die rassistische Diskriminierung war dort aufgehoben. Cy Twombly und Robert Rauschenberg reisten danach nach Nordafrika und Italien, John Cage und Merce Cunningham arbeiteten weiter an musikalischen und choreographischen Projekten, die wiederum Rauschenberg unterstützte, inzwischen eng mit dem Maler Jasper Johns befreundet. Ein Netz von Freundschaften, Kollaboration und innovativem Denken war entstanden, das in der Ausstellung aufgefaltet wird.
Biographische Spurensicherung setzt immer wissenschaftliche Rekonstruktion voraus, bleibt aber auch Konstruktion, weil eine Biographie sicheres Wissen mit Vermutungen verbindet über das, was man nicht wissen kann. Die Kuratoren versuchen, diesen Graben zu schließen: mit allen offenen Fragen, die sich ergeben und die den Besucherinnen und Besuchern vielleicht auffallen.
Die Entwicklung der künstlerischen Werke der fünf Freunde verlief sehr unterschiedlich, obwohl es Berührungspunkte gab. Twomblys Handschrift erkennt man in den Werken Rauschenbergs, der die Blätter seines Freundes in seinem Werk einklebte. Man hat sich, die Umgebung und die Ateliers fotografiert. Man schrieb sich Postkarten und Briefe.
All dies ist in der Ausstellung zu sehen, neben Kostümen, Entwürfen und persönlichen Erinnerungen. Vor allem sieht man, wie sich die künstlerischen Ansätze der Freunde entwickelten haben, die heute zu den wichtigsten Künstlern des 20. Jahrhunderts gehören, bevor sie Weltstars und Kunsthelden wurden: die skripturale Malerei und Zeichnung von Cy Twombly, der sich später in Italien niederließ, das Collagenwerk von Robert Rauschenberg, das von Anfang an von Bezügen zu seiner Entstehungszeit geprägt war, die Auseinandersetzung mit den USA im Werk von Jasper Johns und die Ausdehnung der Grenzen von Kunst in der Arbeit von Merce Cunningham und John Cage, der sich (übrigens) immer für Pilze interessierte, die später auch bei Cy Twombly auftauchen.
Die Blicke der Freunde richteten sich auch auf die natürliche Umgebung, neben ihren Erkundungen der Kulturgeschichte fremder Länder. Die Werke von Rauschenberg, Twombly und Cage sind davon geprägt. Twombly besuchte Rauschenberg später immer wieder auf Captiva Island in Florida, wo er in Ruhe arbeiten konnte. Dieser idyllische Ort hat wohl seine Arbeit beeinflusst.
Auf diese Weise zeigt die Ausstellung den künstlerischen Prozess des Suchens und Findens von Ausdrucksmöglichkeiten in einer aufregenden Zeit. Die Wege und Ergebnisse der Arbeit der fünf Freunde hatten maßgeblichen Einfluss auf die nachfolgende Kunst, den man bis heute spürt. Ihre Werke lösten die Grenzen zwischen den Gattungen auf, und Interdisziplinarität wurde unverzichtbar. Twombly betrieb die Einschreibung von Literatur und Kulturgeschichte. Rauschenberg arbeitete wie Cage zwischen den Medien. Vor allem zeigen die Werke, wie eng man sich den Zusammenhang von Kunst und Leben dachte.
Über die Collage drangen die mediale Wirklichkeit oder das Beiläufige wie Nägel und Steine in das künstlerische Werk ein. Und man muss viele Bilder als Reaktionen der Künstler auf das Zeitgeschehen sehen, auf die Ermordung John F. Kennedys, auf die erste Mondlandung der Amerikaner, auf die Bedrohung durch die Atombombe und auf die fortschreitende Technologisierung der Welt. Und auf einmal sieht man die Werke der fünf Freunde, die nach dieser Zeit entstanden, anders und neu. Dies ist eine fulminante Leistung der Ausstellung. Denn es ist jetzt kein Geheimnis mehr, die Kriegsbilder von Cy Twombly (wie sie beispielsweise im Museum Brandhorst hängen) als ein künstlerisches Statement auf den andauernden Konflikt der Religionen zu sehen.
Die Werke der fünf Freunde erlauben unterschiedliche Lesearten: als Reaktionen auf ihre Zeit, als Erklärung kunstgeschichtlicher Vorgänge, als Einblick in die Umstände der Entstehungsprozesse von Kunst und als Dokumente von intensiven, auch homoerotischen Freundschaften. Doch was macht die Ausstellung interessant für junge Menschen? Die Kuratoren stellen diese Frage ausdrücklich. Sie zeigt zunächst, wie man die Welt beobachten kann und wohin man schauen muss, um sie zu erfassen: in die Natur, in Beiläufigkeiten, aber auch in die technologischen Entwicklungen, nicht zuletzt in die Geschichte auch fremder Kulturen. Aber in ganz anderer Weise ist sie auch ein Hinweis auf die Sensibilität der Künstler gegenüber einer Umgebung voller Diskriminierungen und falscher Doktrinen. Die ausgestellten Werke verhandeln in den Zusammenhängen ihrer Entstehung auch solche fragwürdigen Wertschöpfungen, die bis heute in die Welt der Jugend dringen. Die Werke der fünf Freunde verweisen auf einen kreativen Freiraum, den sie sich trotz aller Widrigkeiten im Vertrauen auf die Wirkungsmacht der Kunst erarbeitet haben.
Wer Reiselust verspürt, kann die Bilder Twomblys im Museum Brandhorst in München besuchen. Eine weite Reise mag nach Rom führen, wo seit einigen Wochen die Bilder und Skulpturen Twomblys zu sehen sind, die seine Stiftung der Galleria Nazionale d´Arte Moderna in Rom geschenkt hat: ein Anlass, die Zeit des Künstlers in dieser Stadt zu betrachten.
Die Ausstellung läuft noch bis zum 11. Januar 2026!

