Museum Folkwang zeigt: Magischer Realismus Italienische Malerei der 20er Jahre

Um zu verstehen, was Magischer Realismus ist, werde ich ein modernes Bild von Lotte Laserstein als Vergleich und Bezugspunkt zu Rate ziehen.

In dem berühmtesten Abendmahl der Kunstgeschichte, dem Fresko von Leonardo da Vinci im Refektorium von Santa Maria delle Grazie, führt Jesus Ankündigung des Verrats an ihm zu heftigen Reaktionen unter den Jüngern.

In dem „Abend über Potsdam“ von Lotte Laserstein hat die zentrale weibliche Gestalt keine Botschaft mehr an die sie umgebenden Zeitgenossen.

Lotte Laserstein (1898–1993) Abend über Potsdam, 1930 Öl auf Holz, 111 x 205,7 cm Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Roman März © VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Das Frankfurter Städel Museum präsentiert die Malerin Lotte Laserstein (1898–1993) in einer umfassenden Einzelausstellung. Lasersteins Œuvre gehört zu den großen Wiederentdeckungen der letzten Jahre und zeichnet sich durch ebenso sensibel wie eindringlich gestaltete Porträts aus den späten Jahren der Weimarer Republik aus.

Im Gegenteil: In dem Gemälde von 1930 herrscht eine bedrückende Sprachlosigkeit zwischen den fünf Personen. Ein jeder scheint in seiner eigenen Nachdenklichkeit versunken zu sein; selbst der Hund wirkt in sich gekehrt. Obwohl der Balkon bzw. die Dachterrasse die Möglichkeit zur Weitsicht anbietet, können die hier Versammelten weder die Aussicht genießen noch sich dem Gegenüber widmen. Die bedrückende Szene oberhalb der preußischen Residenzstadt wird durch einen Bildausschnitt, der die stehenden Personen knapp über ihren Köpfen abschneidet und der  den Betrachter auf Augenhöhe gegenüber der Zentralfigur setzt, verstärkt.

Drei Jahre vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler liegt ein Gewitter in der Luft.

Nähert man sich vor diesem Hintergrund dem in zeitlicher Nähe, aber tausend Kilometer weiter südlich zu verortetem Gemälde von Baccio Maria Bacci  „Pomeriggio a Fiesole“, so fallen einem zunächst die Unterschiede auf:

Baccio Maria Bacci, Pomeriggio a Fiesole, 1926 -1929, Öl auf Leinwand, 224,5 x 180 cm

Baccio Maria Bacci, Pomerriggio al Fiesole, 1926 -1929, Öl auf Leinwand, 224,5 x 180 cm, Galleria degli Uffizi Florenz, © Lothar Adam

Innenraum, geöffnetes Fenster, Ausblick über eine sonnenbeschienene Hügellandschaft, feierliche andächtige Stille, erhöhter Betrachterstandpunkt, ein Hund, der sich aufmerksam dem rechten Mann zuwendet, eine Malweise, die in ihrer Klarheit an die Gegenstandswiedergaben  von Malern aus der Frührenaissance erinnert. Auf dem Bild zu sehen sind der Maler Baccio Maria Bacci selbst, ganz rechts mit Zigarette, ihm  gegenüber sitzt sein Freund Guido Peyron – auch Maler, sowie die beiden Ehefrauen. Elena Croon, die Frau des Malers, steht vor dem Fenster.

Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten zu dem Bild von Lotte Laserstein. Obwohl die vier Personen, offensichtlich zwei Paare bürgerlicher Provenienz,  einen Kreis um den Tisch bilden, scheint das Gespräch im Moment unterbrochen zu sein; v.a. die hintere Frau geht ihren eigenen Gedanken nach. Die Welt außerhalb des Versammlungsraumes wird von den Anwesenden nicht beachtet.

Andererseits vermittelt mir Baccis Bild nicht die gleiche leicht depressive Stimmung wie das Bild von Laserstein.  Zu feierlich ist die Atmosphäre in dieser von mehreren nicht eindeutig identifizierbaren Lichtquellen beschienenen Szene. Die Personen tragen Feiertagskleidung, das Arrangement auf dem Tisch erinnert an ein Stillleben (mit Vanitasandeutungen), die Dame vor dem Fenster könnte aus einem Gemälde von Vemeer   stammen, die Kulturlandschaft der Toscana im Hintergrund strahlt Ruhe, Innenraum und Möbel strahlen schlichte Eleganz aus.

Und doch löst das Bild – bei aller Klarheit des Abgebildeten – Fragen bei mir aus: Was ist der Anlass für das Zusammenkommen? Was ist einen Moment vorher passiert? Was hat die Aufmerksamkeit des Hundes erregt? Singt der Mann mit der Gitarre bald wieder? Welchen Gedanken hängen die Anwesenden nach?

Südlich in unmittelbarer Nähe von Florenz liegt Fiesole, die Geburtsstadt der Renaissance. Im Norden erstreckt sich die Toscana, auf deren Hügeln stehen herrschaftliche Villen. In deren Tälern hat aber auch schon 1920 die Industrialisierung begonnen. Trotzdem sind die Hügel von Fiesole  ein idealer Ort, um malerische Traditionslinien mit  realen Landschaftseindrücken  zu verbinden, zumal, wenn man Alltagsszenen etwas Magisches geben möchte.

Die malerische Umsetzung einer alltäglichen Szene: der Überblick und Distanz ermöglichende Betrachter-standpunkt, die geometrische Strenge der Komposition, das Anknüpfen an ältere Maltechniken, die feierliche Kleidung und die angehaltende Bewegung der Personen, der Ausblick auf die sonnenbeschienene Toscana, die strenge Kühle der Innenraumausstattung, die geheimnisvolle Lichtführung – all dies führt zu einer Poetisierung dieses nachmittäglichen Treffens von Freunden oder Bekannten  – was mich an romantische Kunstintentionen erinnert.

Kurz vor dem Aufstieg von Mussolini leuchtet in der italienischen Kunst des Magischen Realismus noch einmal für kurze Zeit das metaphysische Bedürfnis nach dem „Ganz-Anderem“ zum und im  Alltag auf.

Laserstein und Bacci reagieren höchst unterschiedlich auf die sich andeutenden historischen Katastrophen.

Ubaldo Oppi: Ritratto della moglie sullo sfondo di Venezia, 1921; Die Frau des Künstlers vor venezianischer Kulisse
Öl auf Leinwand, 120 x 100 cm; Privatsammlung, Rom © Carlo Baroni, Rovereto

Das Folkwang-Museum in Essen präsentiert:

Unheimlich real -Italienische Malerei der 1920er Jahre

28. Sept. 2018 – 13. Jan. 2019

mit mehr als 80 Gemälden des Magischen Realismus, einer in Deutschland noch nahezu unbekannten Kunstbewegung im Italien der 1920er Jahre. 

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