Eine Annäherung

Es ist nicht leicht, einen Zugang zu den rund 50 Bildern von Qui Shihua, die derzeit in dem Bochumer Museum Unter Tage gezeigt werden, zu finden. Erst nach einiger Zeit lassen sich auf den scheinbar monochromen Bildflächen vereinzelt dunklere Schlieren erkennen, die sich bei geduldiger Betrachtung als Andeutungen von Landschaftselementen  erweisen.

1999, Öl auf Leinwand, 3tlg, je 238 x 128, insg. 238 x 384 cm

Im letzten Raum der Ausstellung an der Kopfwand  befindet sich das  größte Bild der Ausstellung.

Huang Shen (1687-1768), Landschaft nach Gedichten, Tusche auf Papier, 1729, 55x44 cm

Der Besucher wird zunächst auf die Bilder von Qiu Shihua vorbereitet. Dies geschieht durch Beispiele aus dem Bereich der Landschaftsmalerei, die für Qui Shihua relevanten kunsthistorische Traditionslinien erkennbar machen. Die Beispiele aus China verdeutlichen die Bedeutung der unbearbeiteten bzw. nur leicht kolorierten Flächen in den chinesischen Landschaftsdarstellungen, deren Offenheit des Bildaufbaus vom Betrachter ein sehr aktives Rezeptionsverhalten fordern.

Paul Cézanne, La Montagne Sainte-Victoire, um 1885, Aquarell und Zeichstift auf Papier, 31,7x45,7 cm

Dem gegenübergesetzt werden Beispiele aus der modernen europäischen Landschaftsmalerei, die sich u.a. durch einen abnehmenden Ikonizitätsgrad  bis hin zu rein abstrakter Räumlichkeit (z.B. bei den riesigen Farbkissen von Graubner) kennzeichnen lassen, wobei die malerischen Mittel und der Malprozess selbst immer größere Eigengewichte bekommen.

Ausgerüstet mit diesen Hinweisen begegne ich nun der Bildwelt von Qiu Shishua und entscheide mich, bei dem letzten, größten Bild der Ausstellung genauer hinzusehen. Die ersten Minuten vergehen damit, auf der nur scheinbar monochromen Fläche die dunkleren Schlieren als Andeutungen einer Landschaft zu lesen. Dazu bewege ich mich um das Bild herum, nähere mich an und suche wieder einen größeren Abstand.

Unter einem bestimmten Winkel treten Landschaftsdetails deutlicher hervor. Horizontale Baumgruppen auf 2/3 Höhe, Berggipfel im Nebel oder Bäume in einer Talsenke könnten angedeutet sein.

Aber es fehlt ein konkreter Hinweis, der einen Maßstab ermöglicht, wodurch die vermeint-liche Landschaft in eine unbestimmte Ferne rückt.

Eine Bank in 5 Meter Abstand vor dem Gemälde lädt mich ein, es wieder frontal von vorne in Ruhe zu betrachten. Die von der Seite wahrgenommen Strukturen lassen sich zuerst nicht wiederfinden, dafür werden andere Bildbereiche deutlicher wahrnehmbar:

Das obere Drittel des Bildes, die klassische Himmelszone, scheint  heller zu sein. Da die Ränder des Gesamtbildes dunkler sind als die mittleren Bildzonen, ergibt sich eine leicht V-förmige Anordnung. Ungefähr auf halber Bildhöhe scheinen nun an Baumgruppen oder Berggipfel erinnernde Formationen aufzutauchen und sich von links nach rechts durch das Bild zu ziehen, wobei deren Schwerpunkte im mittleren und rechten Bild liegen.

Da ich mit identifizierendem Sehen nicht weiterkomme bzw. vermeintlich Gesehenes beim geringsten Nachlassen der Konzentration wieder in dem hellen Hintergrund zurückzusinken scheint und ich in meiner Meditation durch diskutierende Besucher hinter mir gestört werde, beginne ich, den bisherigen Wahrnehmungsprozess zu reflektieren und zu kommentieren, wobei die materielle Basis des Bildes und v.a. seine auffällige Dimensionierung mich beschäftigen. Könnte die Dreiteiligkeit des Bildes als Anspielungen auf den Bildtyp des Triptychons gedeutet werden? Ist somit das Gemälde die Feiertagsansicht eines Altars, zumal das Bild mit seiner Größe und seiner Farbgebung eine Aura  ausstrahlt, die religiösen Bezügen nicht im Wege steht, von der Lichtsymbolik ganz zu schweigen?

Die Dreiteiligkeit des Bildes erinnert mich ganz konkret an Klappältere, die ich vor kurzem im St. Annen-Museum in Lübeck gesehen habe.  Und die naheliegende Frage, in welcher Beziehung zum Gesambild die einzelnen Bildteile stehen, kann an ihnen gut erläutert werden. Obwohl in dem Passionsaltar von Hans Memling ein einheitlicher Horizont und die Wolkenformation im Hintergrund alle drei Bildteile verbinden, entfaltet sich im Vordergrund die Passion und Auferstehung Christi in den drei Teilen des Altars als separate Handlungsszenen. Auf das Bild von Qiu Shihua bezogen bedeutet dies, dass es möglich ist, eine landschaftliche Gesamtanlage in dem Gemälde zu sehen und gleichwohl drei Einzelbilder wahrzunehmen, die sich wie eine Filmsequenz von links nach rechts entwickeln.

Dreiteilige Bilder von Rauschenberg und Twombly kommen mir kurz noch in den Sinn.

Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer, um 1818, Öl auf Leinwand, 94,8 cm × 74,8 cm

Und noch ein Bild drängt sich mir auf:

Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ von 1818.

Vielleicht verhilft uns Qui Shihua mit seinem Bild zu erahnen, was der einsame Mann auf dem Berggipfel wahrnimmt oder sucht und welches Verhältnis er zu der Natur hat, bzw. welches Natur- und Wirklichkeitsverständnis das Gemälde dem Betrachter nahelegt.

Trotz alledem: Bis zum Schluss meines Besuches bleibt eine gewisse Distanz zu dem Gemälde von Qiu Shishua und wie zum Trost bleibe ich beim Verlassen der Ausstellung noch einmal bei Cezannes Lieblingsberg, dem Sainte-Victoire,  stehen und genieße die zarte Farbigkeit des großartigen Aquarells.

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