Lothar Adam

„Ich bin kein Künstler, ich bin Maler!“

Norbert Tadeusz, Das große Ei (Casino I), 1987, 300 x 550 cm, Estate Norbert Tadeusz / Petra Lemmerz. VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Foto: LWL / Hanna Neander

Norbert Tadeusz (1940-2011) gehört zu den großen figurativen Malern in Deutschland. Geboren in Dortmund, studierte er von 1961 bis 1965 an der Kunstakademie Düsseldorf u.a. bei Joseph Beuys. Über 30 Jahre lehrte er in Münster, Berlin und Braunschweig und prägte somit eine ganze Generation von Kunststudenten. Der Mensch im Raum wurde zu seinem zentralen Thema. Zu seinem Werk gehören aber auch Stillleben, Landschaften und Interieurs.
Seine Sujets fand Tadeusz nicht nur in seinem Atelier, sondern auch beim Beobachten seiner unmittelbaren Umgebung, in unbedeutenden Alltagsszenen und einfachen Alltagsgegenständen. Seine über Jahre entstandenen Bleistift- und Kohlezeichnungen boten ihm einen Fundus von Ideen und Situationen: Material, das er in seinem malerischen Werk aufgriff, variierte, fortführte und in das Großformat der Leinwände umsetzte.
Tadeusz lebte und arbeitete eine Zeitlang auch in Italien. Beeindruckt war er neben dem Pferderennen in Siena (der Palio)  auch von den beim Metzger ausgestellten Tierhälften. In seinen Ateliers hatte er von der Decke hängende Ringe angebracht, an denen auch seine Modelle turnten.
Für die Planung seiner Bilder verwendete er aus Fotografien ausgeschnittene Details, die er collageartig neu anordnete. Die Vorlage übertrug er in eine Kohlezeichnung auf den Malgrund. Danach erfolgte der Farbauftrag mit Ölfarbe.

In diesem sehr raumgreifenden Gemälde (mit über 5 Meter Länge!) von Tadeusz werden viele schon von seinen anderen Bildern bekannten Motive auf einer riesigen Bildfläche –  der Ovalform der Manege folgend  – angeordnet. Solche Bilder werden vom Maler auch „Tadeuszene“  genannt.
Schon von Weiten sehe ich in der Ausstellung das Bild. Je näher ich herantrete, umso mehr bewegt sich der Blick, ja der Kopf. Ich möchte eine Ordnung in dem Bild erkennen. Zirkus, Manege … Tierhälften, verdrehte Körper … alles dreht sich …. dieses Rot! Wohne ich einem Alptraum bei? Will ich das überhaupt sehen?
Nach einiger Zeit beruhige ich mich etwas und fange an, das Gesehene zu sortieren:

Verschiedene weibliche und männliche Trapez-/Ringekünstler turnen in skurrilen Positionen oberhalb einer rot-gelben, eiförmigen Manege, über der auch ein Tierkadaver hängt. Ein Hund auf einer Galerie mit vielen leeren Tischen treibt einen Mann, der noch Rasierschaum im Bart hat, die Treppe hinab in die Manege.

Zwei Männer sitzen in der Manege und beobachten eine Frau, die auf einem Bett sexuelle Handlungen vorführt.  Eine weitere bekleidete Frau sitzt im unteren Manegenfeld und schaut in Richtung Treppe. Auf dem Boden der Manege liegt noch eine weitere nackte Person, die die Hände vor ihr Gesicht hält. Zwei Frauen in knappen Bikinis spielen an einem Billardtisch; zusammen mit dem offenstehenden Flügel werden Assoziationen an ein Casino geweckt. Eine nackte Frau auf einem Fahrrad ist oberhalb eines von der Decke hängenden Mannes zu entdecken.

Am linken Bildrand fallen zwei verdrehte männliche Akte in unklaren räumlichen Zusammenhängen kaum auf. Zwei Zuschauer am unteren Bildrand auf der Galerie sind mit sich selber beschäftigt. Die Personen und Tiere sind so auf der Bildfläche angeordnet, dass es zu keinen Überschneidungen kommt. Somit gibt es keine  Hierarchisierung zwischen den einzelnen Akteuren und Aktionen, auch wenn durch die Körperhaltung der mittigen Frau und der ovalen Form der Manege eine Blicksteuerung im Uhrzeigersinn, entlang der hängenden Körper erfolgt.

Weitere Besonderheiten sind die Schlagschatten: Sie sind in ihrem dunklen Violett nicht durchgängig vorhanden; sie scheinen ein Eigenleben zu führen. So verwandeln sie sich bei den Billardspielerinnen in zwei Schatten, die männliche Züge von antiken griechischen Vasenfiguren tragen. Über die nackte Person am unteren Manegenrand legt sich ein mächtiger männlicher Schatten.Auffällig ist weiter, dass sich der Raum in einigen Bildbereichen fast in abstrakte Farbflächen auflöst. Ein Beispiel ist der rechte unteren Manegenrand. Auch kommt es zu Mehrdeutigkeiten in der Raumstruktur: Z. B.  neben dem die Treppe herunter eilenden Mann durch einen porösen Übergang der gelben Farbfläche in das Rot des Manegenbodens (mit der Andeutung einer Tür?). 

In der oberen Mitte des roten Manegenbodens lassen die Pinselspuren vielleicht die Andeutungen eines Gesichtsprofils in Dreiviertelansicht (Blick zum rechten Bildrand) erkennen.

Da die rahmende räumliche Perspektive (Blick in eine Manege) bei der Darstellung der Figuren und Objekten nicht durchgehalten wird, entsteht bei mir eine ständige optische Irritation, zumal die sich verrenkenden nackten Personen ungewöhnliche Anblicke des Unterleibes darbieten. Diese wird durch widersprüchliche Behauptungen auf der „Inhaltsebene“ noch verstärkt. Verrenkte Körper an Ringen können noch dem Zirkus- oder Casinomotiv zugeordnet werden. Doch was soll die Schweinehälfte, die irgendwie im Raum schwebt (ohne Halterungen zur Decke!)? Soll darin eine Kritik an der Zurschaustellung von weiblichen Körpern angedeutet  werden? Was hat es mit dem in die Manege flüchtenden Mann auf sich? Ist es vielleicht derselbe, der bei Kafka „Auf der Galerie“ weinend sitzenbleibt?  Auf jeden Fall wird die Zurschaustellung von Sexualität mehrfach im Bild aufgegriffen.

Verlässt man die ikonische Betrachtung und wendet sich der auffälligen Farbgebung zu, fällt das dominierende Rot, das zu Blut (Schlachtung, Stierkampf), aber auch zur Sexualität (Rotlichtmilieu) passt, auf. Dieses Rot bekommt durch das Gelb (und die anderen fast reinen Farben) einen schreienden Ausdruck, v.a. wenn man direkt vor dem riesigen Bild direkt steht. Offensichtlich vereint das Bild zwei Intentionen: viele Bildmotive könnten einem surrealen Alptraum von einer sexualisierten Zirkus- Casinovorführung entnommen sein, wobei der Tierkadaver mir rätselhaft bleibt. Der die Treppe herunterlaufende Mann könnte gut einem Angsttraum entsprungen sein. Ein in sich kohärentes Narrativ gelingt mir nicht.

Franz Kafka
Auf der Galerie
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.

Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die[117] sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.(http://www.zeno.org/nid/20005132630)

Chaim Soutine, Geschlachteter Ochse, 1925

Mit dieser Bildsprache knüpft Tadeusz an eine narrative bzw. figurative  Bildtradition an, zu denen Bacon, Hopper, Hockney,  Picasso, aber auch  van Gogh, Soutine und Beckmann gehören.

Max Beckmann, The Town, 1950
Barnett Newmann, Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau IV, 1969

Auf der anderen Seite scheint eine Überwältigung des Betrachters durch ein ungeheureres Farbspiel von v.a. roten und gelben Farbtönen beabsichtigt zu sein, was Einflüsse der abstrakten Farbfeldmalerei, aber auch der Pop-Art anzeigt. Die für Tadeusz zentrale Auseinandersetzung mit der Figur im Raum findet sich auch bei anderen deutschen Malern wie z. B. Baselitz, Immendorff und Anselm Kiefer.

Jörg Immendorff, Beben, beben, 1983

Um v.a. die Farbwirkung der Bilder von Norbert Tadeusz angemessen wahrzunehmen, kommt man um einen Besuch der Ausstellung in Münster nicht umhin.
Ich bin erst im folgenden Ausstellungsraum, in dem Bilder über den Palio in Siena zu sehen sind und ich in Italien-Erinnerungen schwelgen konnte, ganz wieder zur Ruhe gekommen.

Norbert Tadeusz, Cavalli3, 1985, VG Bild-Kunst, Bonn, 2020. Foto: LWL / Hanna Neander

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