George Grosz - Maler mit Modell

Lothar Adam

George Grosz, Maler mit Modell, um 1927, VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Foto: Bernd Kirtz

George Grosz ist vor allem mit seinen sozialkritischen Arbeiten aus der Zeit der Weimarer Republik populär worden. Als Mitbegründer der Berliner DADA-Bewegung und – nach 1925 –  als Vertreter der Neuen Sachlichkeit widmet er sich mit großer Beobachtungsgabe und mit beißender Kritik der Welt der Großstadt und  den herrschenden Ordnungsmächten: dem Militär, der Kirche, der Politik und den Begleiterscheinungen der kapitalistischen Wirtschaft sowie den Folgen des Ersten Weltkrieges. Sein karikierender Zeichenstil, der sich durch einen messerscharfen, „häkelnden“ Strich auszeichnet, sowie sein collageartiger Bildaufbau stehen einem Expressionismus diametral gegenüber, der das individuelle Erleben bzw. das subjektiv Erlebte betont.

„Die Kommunisten fallen und die Devisen steigen“, 1920

George Grosz liebt es, mit seiner provozierend direkten Darstellung von Sexualität hinter die Fassade spießiger Moral des (Klein-)Bürgers und der  scheinbaren Sittenstrenge  zu schauen.  Auch positive erotische Erlebnisse und Fantasien finden sich in zahlreichen Arbeiten.

Was ist nun auf dem Bild „Maler und Modell“ von 1927 zu sehen?

Eine unbekleidete Frauenfigur, auf einem weichen Sessel mit übereinandergeschlagenen Beinen aufrecht sitzend, hat nur noch die feinen Damenschuhe mit hohen Absätzen an. Ihr Umhang oder Mantel liegt auf der Rücklehne des Sessels. Auffällig sind ihr blondes, gewelltes Haar, die roten Lippen sowie die halb geschlossenen Augen, die auf ein Blatt, vielleicht einen Brief gerichtet sind. Dieses Blatt wird von ihrem rechten Arm sehr nah an den Kopf gehalten, so als sei die Schrift nur schwer lesbar. Die linke Hand berührt (vielleicht mit einem Stift) auch die Lippen, wodurch ein nackter Busen sichtbar wird. Offensichtlich ist die Frau ganz in das Lesen des Blattes vertieft.
Hinter ihr taucht der Maler auf – eine Formulierung, die der zarten Aquarelltechnik geschuldet ist. Die perspektivische Anordnung der beiden Figuren ist nicht  einheitlich: Wird die Frau leicht von oben dargestellt, wobei der Sessel noch auf einem Tisch zu stehen scheint, ist der Mann frontal ins Bild gesetzt. Zwar entsteht durch Überdeckungen eine gewisse räumliche Staffelung, allerdings, ohne dass eine einheitliche Raumperspektive entsteht. Bereit, seinen Pinsel von der Palette in Richtung Leinwand zu führen, ist grimmige Gesicht des Mannes im Profil zu sehen. Auf der Leinwand, die fast wie ein Spiegel wirkt, ist das Gemalte nicht zu erkennen. Der Maler trägt einen Anzug mit Krawatte und Hemd.

Wie ist die Szene zu deuten?

Eine erste Annäherung ermöglicht die Beobachtung einer mannigfaltigen Gegenüberstellung. Teilt man das Bild durch eine Mittelsenkrechte, ist auf der linken Seite die Frau und auf der rechten der Mann zu sehen. Ein Blickkontakt besteht zwischen ihnen nicht. Im Gegenteil: beide schauen in fast entgegengesetzte Richtungen. Dominieren bei der Frau runde Formen, so weist der Mann viele Ecken und Kanten auf. Der Mann scheint (im Sinne einer Bedeutungsperspektive) im Bild dominant zu sein, da er größer als die Frau wirkt und höher steht. Des Weiteren geben seine dynamische Schrittstellung und die Wirkung eines Kopfes, der vielleicht mit Wut, aber auf jeden Fall mit Konzentration gerade nach rechts gedreht wurde, der männlichen Gestalt ein hohes Aktionspotenzial, verglichen mit der Frau, die ruhig auf ihr Blatt blickt.
Und doch: Durch die dunklere Farbgebung und schwache Kontrastbildung des Mannes zieht die heller und kontrastreicher gemalte Frau den Blick des Betrachters auf sich. Betrachtet man das ganze Bild, verliert der Mann seine vermeintliche Dominanz, er wird zum bläulichen Hintergrund degradiert, vor dem sich die Frau abhebt.
Auch auf der Ebene der dargestellten Handlung lässt sich die Frau von dem Auftreten des Malers nicht beeindrucken. Sie hat die Malsitzung ab- oder unterbrochen, um ein Blatt / einen Brief zu lesen. Ihre modische Frisur, die rot-geschminkten   Lippen sowie die eleganten Schuhe verraten ein Selbstbewusstsein, das für die Beziehung zwischen Aktmodell und Maler nicht selbstverständlich ist.
Um die Beziehung zwischen dem Maler und seinem Modell weiter zu verstehen, ist es aufschlussreich, genauer zu betrachten, wie der Maler von Grosz darstellt wird. Einerseits scheint jener das Malen von erotischen Bilder zu lieben, wodurch er eher der antibürgerlichen Boheme zugerechnet werden kann. Andererseits wirkt er mürrisch und v. a. kleidet er sich großbürgerlich mit Anzug und Krawatte. Eine merkwürdige Zerrissenheit geht von seinem Auftreten aus, so als ob er mit seiner Rolle in der Gesellschaft ringt. Er will als Künstler bürgerlich Verklemmtes aufbrechen und gleichzeitig als Anzug- und Schlipsträger Anerkennung im bürgerlichen Milieu finden. Vielleicht lässt sein grimmiger Gesichtsausdruck sogar die Spekulation zu, dass er spürt, wie seine vermeintliche Überlegenheit und Macht als (anerkannter) Maler gegenüber seinem weiblichen Modell schwindet, ja vielleicht sogar, dass er verspottet wird.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Grosz gestaltet die Szene im Atelier so, dass die Frau das Geschehen (und den Mann) dominiert. Er umschmeichelt die Nacktheit der Frau und ihre rundlichen Formen, die mit denen des Sessels korrespondieren, durch seinen Malstil. Die wässerige Farbverwendung, die Beschränkung auf wenige Farben, das Verlaufen der Farbflächen zum Bildrand hin und die dünnen, konturierenden braunen Linien führen zu einer sehr zarten und leichten Darstellung der Figuren, wobei der Hell-Dunkel-Kontrast die Frau positiv hervorhebt. Wie für Aquarelltechnik typisch, werden die hellsten Stellen der jeweiligen Formen weiß, d. h. unbearbeitet gelassen, wodurch die Zartheit des weiblichen Körpers noch verstärkt wird. Besonders die farblichen Akzentuierungen der Haare und Lippen verstärken den Eindruck, dass es die Intention des Bildes ist, mittels einer dezenten Aktdarstellung die erotische Ausstrahlung einer sehr selbstbewussten Frau zu feiern.

Reflektiert Grosz mit diesem Bild seine eigene gesellschaftliche und private Situation?

Lotte Schmalhausen, die Blonde, ist die Schwägerin von George Grosz und wie ihre Schwester Eva, die Dunkle, die Grosz 1920 heiratet, sein Aktmodell.
Somit könnten auf dem Bild Grosz und seine Schwägerin abgebildet sein. Diese Zuordnung ist einerseits erlaubt, da Grosz in anderen der weiblichen Figur ähnlichen Aktdarstellungen im Titel den Namen von Lotte aufnimmt und die männliche Figur Porträtähnlichkeiten aufweist. Andererseits ist der Verzicht auf eine Namensänderung bei diesem Bild vielleicht ein Hinweis auf eine grundsätzlichere Thematik dieses Bildes: Das Verhältnis zwischen Maler und Modell und zwischen Mann und Frau.
Ganz im Gegensatz zu seinen späteren Aktbildern und deren z. T. vulgären Darstellungen wird in diesem Bild ein distanzierteres Verhältnis zwischen dem Maler und seinem Modell deutlich, also – wenn man es personalisieren möchte – zwischen George und Lotte.
Die genaue Beziehungsstruktur zwischen Grosz und seiner Schwägerin ist bis heute nicht ganz geklärt. 1995 sagt in einem Zeit-Interview der 1926 geborene Sohn Peter: „Da kann man nur spekulieren. Wir haben Lotte sehr gemocht, sie war sehr ehrlich. Aber wir hatten nie den Mumm, sie zu fragen, was ihre Rolle in diesen Bildern wirklich war.“

George Grosz - Lotte Schmalhausen (Sitzendes Mädchen), 1928

Aber auf jeden Fall geben die im Bild angesprochenen Themen relevante Einblicke in Grosz´ Lebensgefühl in den „Goldenen Zwanzigerjahre“  in Berlin: Ihm begegnen eine neue großstädtische Freizügigkeit und Vergnügungssucht, die einhergehen mit einem neuen Selbstbewusstsein von Frauen, das die traditionellen Männerrollen angreift. Hinzu kommt, dass Grosz als gesellschaftskritischer und anerkannter Künstler zunehmend (mit dem Erstarken des Faschismus) angefeindet wird, was ihn und seine Frau 1933 veranlassen, Deutschland in Richtung Amerika zu verlassen.

1928, ein Jahr nach dem Aquarell, wird Grosz zum Modell und seine Schwägerin Lotte Schmalhausen  zur fotografierenden Künstlerin.

Lotte Schmalhausen, George Grosz auf dem Dach des Hauses Savignyplatz 5, 1928

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