Lothar Baumgarten – Land of the Spotted Eagle
Lothar Adam
Eine Einführung
Das Von der Heydt-Museum Wuppertal widmet dem deutschen Künstler Lothar Baumgarten (1944–2018) eine Ausstellung mit Werken aus der Sammlung Lothar Schirmer. Es handelt sich um die erste Würdigung des Künstlers in einem deutschen Museum seit seinem frühen Tod vor sechs Jahren. Die Ausstellung ist eingebettet in die neue Sammlungspräsentation „Zeiten und Räume“, mit der sie in Wechselwirkung tritt und neue Lesarten öffnet.
Lothar Baumgarten studierte von 1968 bis 1972 an der Kunstakademie Düsseldorf, u. a. bei Joseph Beuys. Er war mehrfach Teilnehmer der documenta und erhielt neben zahlreichen anderen Auszeichnungen 1984 den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig für seine Arbeit „America Señores Naturales“.
Dass wir nicht weiter so mit der Natur umgehen können, wie wir es gewohnt sind, wird in den letzten Jahren immer mehr Menschen deutlicher. Einige Philosophen*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen wussten das schon vor Jahrzehnten. Doch wie können Perspektiven für ein Leben jenseits des Gewohnten gewonnen werden?
Lothar Baumgarten, der insgesamt 18 Monate am Orinoco in Venezuela bei zwei Gemeinschaften der Yanomami lebte, kam schon in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zu der Überzeugung, dass aus der Auseinandersetzung mit nord- und südamerikanischen Frühkulturen gescheite Fragen an unseren Way of Life gestellt werden können, und das mittels künstlerischer Mittel wie Installationen, Fotografien, Filmen und Texten. Seine Vorgehensweise:
Das Fremde, also mythologische und ethnografische Themen, und das Bekannte, unsere begrifflichen Einordnungen, werden so ineinander verwoben, dass sie sich gegenseitig reflektieren und in Frage stellen.
Natürlich besteht bei jedem Clash of Cultures immer die Gefahr, dem Fremden das Fremdsein zu rauben und es mit eigenen Klischees oder Wunschprojektionen aufzuladen. Man denke nur an die Karl-May-Verfilmungen in den 70er Jahren – meine ersten Kinofilme, die ich als Jugendlicher begeistert gesehen habe. Pierre Brice musste in einem Indianer-Karnevals-Kostüm im (damals) jugoslawischen Gebirge den mit der Natur im Einklang lebenden Apachen geben – aber so dachte ich natürlich damals nicht, sondern war damit beschäftigt, mich zwischen Winnetou und Old Shatterhand als Lieblingshelden zu entscheiden.
Oder – die andere Gefahr bei der Begegnung mit dem Fremden: die Ausgrenzung. Das Fremde wird mystifiziert bzw. – noch schlimmer – pathologisiert (man denke an die Hexenverfolgungen). Baumgarten, ein Schüler von Beuys, versucht beiden Gefahren zu entgehen. Er sieht bei indigenen Völkern ein Leben, das der Natur näher ist, und in deren die Lebenserfahrungen kondensierenden Mythen eine Möglichkeit, westliche Kulturen in Frage zu stellen. Ihm ist dabei bewusst, dass schon die Wahrnehmung und die Einordnung des Fremden in die eigene Sprache unvermeidlich ein Akt der Überstülpung ist. So sind ja selbst die Namen der indigenen Stämme von den Kolonialherren vergeben worden. Darum werden die indigenen Mythen in den Arbeiten von Baumgarten in einem neuen, verfremdenden Rahmen präsentiert, der es ermöglicht, den künstlerischen Aneignungsprozess bewusst zu machen – z.B. durch genau ausgeklügelte Beschriftungen seiner Installationen.
Die zum ersten Mal öffentlich gezeigte Rauminstallation „MAWAITON 1977“ umfasst neun Gelatin Silver Prints in acht Rahmen und zwei Wandzeichnungen (Rios). Es geht um eine der großen Savannen im südöstlichen Venezuela, die von der Ausbeutung durch den Gold- und Diamanten-Abbau betroffen ist. Baumgarten schreibt zu der Installation: „Die Namen von Flüssen und Bergen werden einmal Kunde geben von den Sprachen dieser Region und dann nur als solche in unseren geographischen Karten überleben.“
Werden die gemalten Flussnamen zu Erinnerungsorten für eine vergewaltigte Natur und Kultur, so gehen andere Kunstwerke den umgekehrten Reflexionsweg: Ein rotes und oder schwarzes Band an einer Feder angebracht reicht, um eine Fülle an Reflexionen rund um den Begriff „Rothaut“ zu ermöglichen.
Makaberer „Hintergrund“ dieser Installation: Die Federkiele stecken in leeren Tablettenhülsen vor einer aus Tierhaaren gesponnenen und Wärme und Behaglichkeit ausstrahlenden Decke, die daran erinnern soll, dass 1763 britische Truppen beschlossen haben, die roten „Bastarda“ mit solchen Pocken verseuchten Decken zu infizieren. Die indigene Bevölkerung besaß gegen jene weder Abwehrkräfte noch Arzneimittel.
Die Feder ist ein in den Arbeiten von Baumgarten immer wiederkehrendes Zeichen. Ich muss zugeben, dass ich mich beim Besuch der Ausstellung zunächst mit einem Vorbehalt diesem Objekt – aus Kindheitserfahrungen wohlbekannt – genähert habe. Im Hinterkopf hatte ich die Diskussion um kulturelle Aneignungen. Gerieten dabei nicht auch Karnevalskostüme mit „indianischem Federkopfschmuck“ ins Zwielicht? Doch gerade vor diesem Hintergrund wird die andersartige künstlerische Umgangsform von Baumgarten deutlich. Er imitiert keine Kulthandlung. Im Gegenteil: Er isoliert die Feder von ihrer ursprünglichen schmückenden Ausgangsfunktion. Und lädt sie mit neuer Bedeutung durch den Kontext, in die sie gestellt wird, wieder auf. Ein Beispiel:
Die Hängung der Federn, die jeweils den Namen eines der dort damals lebenden Stämme tragen und z.T. mit einem roten Bändchen versehen sind, verrät den lokalen Bezug zu Nordamerika bzw. den USA. Einerseits wird die Feder durch die Namen mit den Stämmen in Bezug gesetzt, sie steht pars-pro-toto für diese. Andrerseits werden mittels der angedeuteten Landkarte und dem roten Bändchen Assoziationen an den grausamen Siedlungskolonialismus und den Widerstand dagegen geweckt. Die Bedeutung der Feder wird dekonstruiert und mit kritischen Bezügen aufgeladen.
In diesem Zusammenhang wird auch der Titel der Ausstellung „Land of the Spotted Eagel“ deutlicher. Ist der Weißkopfseeadler für die USA ein Symbol für Größe und Freiheit, wird in den Arbeiten von Baumgarten bewusst gemacht, dass gerade diese Gleichsetzung eine Verblendung / ein Mythos ist und seine Federn „spotted“ – befleckt sind. Aus dem heiligen Vogel der „Indianer“ wird bei Baumgarten ein dunkelfedrigen Adlerkopf, auf dem die Namen der kolonialisierten indigenen Stämme farblich hervorgehoben sind. Sein geöffneter Schnabel mit der vorgestreckten Zunge sowie der strenge Blick lassen einen Schrei (des Entsetzens ?) assoziieren.
Mit diesem Hintergrundwissen bekommt die Installation „Vom Ursprung der Tischsitten“ von 1971 eine makabre Note – als Ausstellungbesuchender ist man froh, dass man nicht zu Tische gebeten wird.
Dass die Vorgehensweise von Baumgarten durchaus auch humorvolle Aspekte haben kann, zeigt die Fotografie „Urwald Barassica Oleracea“ von 1968.
Unsere Vorstellungen vom „Urwald“ werden in Frage gestellt, wenn Baumgarten aus Grünkohl eine Tropenlandschaft entstehen lässt, und dies im Titel verdeutlicht: Brassica Oleracea ist der wissenschaftliche Name für Grünkohl.
Übrigens findet man in der Ausstellung auch die inszenierte Fotografie eines nackten Mannes in Rückenansicht, offensichtlich indigener Abstammung, mit einer Spiegelausgabe in der Hand, auf der der Kopf von Beuys zu sehen ist. (Der Spiegel berichtete in der Ausgabe 45/1979 über die Ausstellung von Beuys im New-Yorker Guggenheim-Museum.)
Vielleicht die geheimnisvollste Arbeit der Ausstellung ist das „Federdreieck“ von 1968/69.
Dass einige Werke von Baumgarten Bezüge zur Kunstgeschichte, in diesem Fall zu Dürer, ermöglichen, zeigt sich an seiner Installation „Blaues Tuch mit drei Arafedern“ von 1969, 95 x 89 cm, Molton und Ararafedern.
Als Dürer dieses Meisterstück einer Naturstudie um 1500 malt, wird der amerikanische Kontinent kolonialisiert. Baumgartens Arbeit legt dem Betrachter gedankliche Verknüpfungen mit dem Flügel nahe, z. B.: Vergangene kulturelle Entwicklungen – mit einem Höhepunkt in der Malerei von Dürer – profitieren von einer Gesellschaft, die indigene Stämme in Amerika ausbeutet und vernichtet. Sieht man beide Seiten collagenartig zusammen, entsteht ein kopfloser Vogel, der gekreuzigt ist.
Wird mit dem obigen Hinweis „Schüler von Beuys“ schon ein erster Hinweis auf künstlerische Bezüge gegeben, so möchte die stellvertretende Museumsleiterin und Kuratorin der Ausstellung Anna Storm mit der Platzierung des Objekts vor zwei expressionistische Bilder die Besucher*innen auf eine weitere Fährte führen.
Schauen wir uns die beiden Bezugsbilder einmal genauer an:
Die „Lesende (Else Lasker-Schüler)“ von Karl Schmidt-Rotttluff ist eines der herausragenden Neuerwerbungen des Museums. In diesem Bildnis der berühmten expressionistischen Dichterin, die übrigens begeistert von diesem Porträt war, sind die Einflüsse des Kubismus und des Futurismus deutlich erkennbar. Gerade die mit schwarzen Linien abgesetzten geometrischen Formen mit den unterschiedlichen Dreiecksformen (!) des Gesichtes verstärken den konzentrierten Gesichtsausdruck der lesenden oder dichtenden Frau.
Das zweite Bezugsbild ist von Ernst Ludwig Kirchner: „Frauen auf der Straße“ von 1914:
Auch hier fallen die Dreiecksformen direkt auf. Aber in diesem Bild gibt es auch eine inhaltliche Verknüpfung. Die zentrale im gelblichen Nachtlicht von einem Freier im Mittelpunkt des Bildes angesprochene Prostituierte trägt eine Federkappe. Ihr selbstbewusstes, fast abweisendes Auftreten passt zu dem auffälligen Kopfschmuck. Wieder werden durch die räumliche Nähe von Baumgartens „Federdreieck“ Verknüpfungen provoziert: Wurden nicht bis in die 1930er-Jahre indigene Menschen aus aller Welt in Europa in Zoos, Zirkussen und auf Jahrmärkten präsentiert? Gibt es nicht Parallelen zwischen der Stellung von Prostituierten und der Unterdrückung von indigenen Stämmen? Handelt es sich deshalb bei der Federkappe der Frau nicht um eine „kulturelle Aneignung“, sondern um eine bewusste Solidarisierung?
Vielleicht sind solche Gedanken zu spekulativ und zu gewollt. Aber mich hat grundsätzlich die Idee überzeugt, die zurecht bekannten und beliebten Gemälde der Museums-Sammlung mit einer Kunst zu konfrontieren, die kritisch und reflektierend Bildmotive und ihre Verwendung befragt und den verfolgten und bedrohten indigenen Stämmen ein Denkmal setzt.
Die Ausstellung läuft noch bis zum
1. September 2024!
Zur Ausstellung ist ein hervorragender Katalog, herausgegeben von Roland Mönig und Anna Storm, erschienen.
Ein Multimedia Guide kann über die Seite des Museums schon von zuhause aus heruntergeladen werden.
Nachtrag: Ahmet Doğu İpek
Mit dem Besuch der Ausstellung von Lothar Baumgarten im Gepäck ergeben sich reizvolle Bezüge zu den Arbeiten von Ahmet Doğu İpek (*1983 in Adıyaman, Türkei, lebt in Istanbul), einem Künstler, der im Leverkusener Museum Morsbroich im Rahmen der Ausstellung „Es gibt kein Wort … – Annäherungen an ein Gefühl“ noch bis zum 25. August gezeigt wird. Diese Ausstellung will beispielhaft fünf zeitgenössische künstlerische Positionen vorstellen, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Thema „Heimat“ auseinandersetzen.
Reflektieren seine Tusche-/Bleistiftarbeiten auf Papier das Verhältnis zwischen städtebaulichem Wachsen und der Widerständigkeit von Natur, gehen von seiner Installation im 1. Raum die Impulse aus, auf unterschiedlichsten Ebenen über „Verwurzelungen“ nachzudenken und nachzuspüren.