Lothar Adam und Klaus-Peter Busse

Teil 1 The Happy End of Franz Kafka’s 'Amerika' (Museum Folkwang)

Auf einem Hallenfußballfeld, das man aber – vielleicht wegen Corona – nicht betreten darf, hat IKEA einen Schnäppchenmarkt aufgebaut; Schwerpunkte  scheinen Möbel, v.a. Sitzmöbel zu sein.

Blick vom Ausstellungseingang

Das Thema Sitzen hat in dieser Ausstellung mindestens drei Dimensionen:

  1. a) sich setzen, sich zueinander setzen, sich gegenüber setzen, sich präsentieren, sich unterhalten,
  2. b) den anderen beobachten, mustern, ihn kontrollieren, testen, bewachen, jagen,
  3. c) sich außerhalb des Spielfeldes auf eine Tribüne setzen und alles distanziert von außen oben beobachten.

Der Titel der Ausstellung „The Happy End of Franz Kafka’s ‚Amerika‘“ verweist auf Franz Kafkas Romanfragment „Amerika“ bzw. „Der Verschollene“  aus dem Jahr 1914. In diesem Roman flüchtet der junge Karl Roßmann, der zur Zeugung eines Kindes verführt worden ist, nach Amerika, um dort eine neue Heimat zu finden. In Kafkas Kontrafaktur eines klassischen Bildungsromans scheitert Karls Vorhaben: Ihm gelingt  – trotzt aller Bereitschaft zur Anpassung – nicht der ersehnte soziale Aufstieg in der kapitalistischen amerikanischen Gesellschaft. Im Schlusskapitel, dem „Naturtheater von Oklahama“, mit dem das Fragment abrupt abbricht, möchte der Protagonist eine Anstellung bei dem größten Theater der Welt finden, zumal ein Werbeplakat verspricht, auch Dilettanten anzustellen. Doch schon bei der Anmeldung, als Karl statt seines wirklichen Namens „Negro“ angibt, wird ahnbar, dass die Lebensbahn des Helden noch weiter abfällt. Mit einer längeren Zugfahrt in eine immer kältere und gebirgigere Region endet dieses Kapitel.

Bei der Ankunft von Karl auf dem Rennplatz von Clayton, auf dem das Bewerbungsverfahren für das „Naturtheater“ stattfindet, muss Karl über ein Podium krabbeln, „auf dem Hunderte von Frauen, als Engel gekleidet, in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rücken, auf langen, goldglänzenden Trompeten“ blasen. Diese auf den Trompeten lärmenden Frauen stehen auch noch auf unterschiedlich hohen Postamenten und bilden somit ein Tableau vivant, das in seiner Mischung aus Zirkusnummer und sakraler Musikaufführung fast surreal wirkt.

Eine vergleichbar groteske Szene findet man bei Kippenbergers „Karussell mit Schleudersitzen“ von 1991: Zwei Schleudersitze, auf denen schwarze Regenschirme befestigt sind, drehen sich um sich selber und mittels eines Schienenkreises um ein in der Mitte sich befindendes überdimensioniertes Spiegelei. Art und Position des Schirms verweisen auf Spitzwegs „Armen Poeten“, die bunten Schienen auf eine Farbpalette.

Martin Kippenberger, Karussell mit Schleudersitz, 1991
Carl Spitzweg, Der arme Poet, 1839

Diese groteske Kombination unterschiedlicher Realitätsbezüge, die auf Gefährdungen und der Rettung des eigenen Künstlerlebens anspielen könnte,  hat in der zum Lächeln anregenden Leichtigkeit der Szene Ähnlichkeit mit dem von Karl Roßmann zu überwindenden bzw. zu unterkriechendem Hindernis. Ergeben sich somit einerseits Bezüge zwischen Kippenbergers und Kafkas Art der künstlerischen Inszenierung von Szenen, so lassen sich andererseits auch konkretere Bezüge zwischen der Installation und dem Roman finden: So erinnern die von Kippenberger entworfenen Sitzkonstellationen und an die Befragungssituationen bei dem Einstellungsverfahren von Karl Roßmann zum „Naturtheater“.
Die heutigen Besucher*innen der Ausstellung werden vielleicht Assoziationen zu Bewerbungsgesprächen oder Wettbewerbs- und Quizzszenen kommerzieller Sender haben. Aber auch Grundsätzliches könnte in den Sinn kommen, z. B., dass das Sitzen immer auch ein Sich-Setzen, ein Sich-Verorten in Bezug zu anderen ist.

Dieses mögliche Abgleiten ins Philosophisch-Allgemeine würde der Ausstellung aber nicht gerecht, da die ausgestellten Objekte mit konkreten biografischen und künstlerischen Erfahrungen Kippenbergers verknüpft sind. Ein Flyer, der im Ausstellungsraum bereit liegt, deckt die Hintergründe zu einigen Objekten auf. Auch ist es möglich, sich einer der permanenten  Führungen spontan anzuschließen.

2. Teil Vergessene Einrichtungsprobleme in der Villa Hügel (Villa Hügel)

Dieser Ausstellungsteil zeigt eine Auswahl von Plakaten und Künstlerbüchern, die Martin Kippenberger hergestellt hat. So nannte der Künstler 1996 eine Ausstellung in der Galerie der Stadt Esslingen: „Ausstellung in der Villa Merkel, Esslingen, anstatt in der Villa Hügel (Krupp)“. Der Titel allein zeigt schon, dass Kippenberger mit Irritationen, Humor und Verzerrungen spielt. Das gilt auch für die vielen Bücher und Plakate, die er entwarf.

Martin Kippenberger Vergessene Einrichtungsprobleme in der Villa Hügel (Villa Merkel), 1996 Künstlerbuch © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne

Die Bücher Kippenbergers hat man in die historische Bibliothek der Villa Hügel eingepflegt. Sie stehen zwischen und vor den Büchern der Familie Krupp hinter den Glasscheiben der Büchersammlung. In den meisten Büchern können die Besucher*innen aber nicht blättern. Sie sehen in erster Linie nur die Buchumschläge. In einigen Fällen kann man diese Umschläge bekannten Buchreihen zuordnen. So erinnert ein Kippenberger-Buch an die Reclamhefte der Schulzeit oder an die Reiseführer von Baedeker. Die ausgestellten Werke sind Künstlerbücher. Obwohl sie in einigen Fällen als Ausstellungskataloge funktionieren, also als Bücher über künstlerische Werke, sind sie in erster Linie selbst Kunstwerke und wollen so gesehen und gelesen werden. In ihnen zeigt Kippenberger schriftstellerische Versuche, Reiseberichte, Werkverzeichnisse und Einladungskarten. Kippenberger hat in seinen Künstlerbüchern die Ephemera seiner Arbeit versammelt.

Ursula Böckler: Die Fotos der "Magical Misery Tour" mit Martin Kippenberger, Brasilien Februar / März 1986

Seine Reise nach Brasilien (1985/1986), die er „Magical Misery Tour“ nannte, wertete er in mehreren Büchern aus. Sie zeigen, was er in der von der Fotografin Ursula Böckler gut dokumentierten Künstlerreise anstellte. Er lässt sich in vielen Situationen an merkwürdigen Orten fotografieren und entdeckt heruntergekommene Zapfsäulen, die er in ein Kunstwerk verwandelt und „Tankstelle Martin Bormann“ nennt.

Man muss also die biografischen Hintergründe kennen, aus denen heraus die Künstlerbücher entstanden. Das gilt auch für die Plakate, die er entworfen hat. Ohne den Blick in die Künstlerbiografie und in das Kunstgeschehen der Entstehungsjahre von Büchern und Plakaten versteht man sie nicht, und sie bleiben nur ästhetische Oberflächen hinter Glasscheiben.

So lebte Kippenberger 1986 im Hotel Chelsea in Köln und gestaltete das Haus künstlerisch um. Das Haus und das angegliederte Café Central gibt es bis heute.

In dieser Zeit entstand das Künstlerbuch „Café Central. Skizze zum Entwurf einer Romanfigur“, in dem Kippenberger tagebuchartig sein Leben festhält. Das Künstlerbuch ist auf diese Weise auch ein Dokument der Kölner Kunstszene in diesen Jahren.

Hotel Chelsea mit dem Café Central

Martin Kippenberger war ein hervorragender Maler und Zeichner. Häufig arbeitete er während seiner Reisen und während der Aufenthalte in Hotels auf den Briefpapieren dieser Häuser. Zusammen mit dem Buchhändler und Verleger Walther König in Köln entstand daraus das Künstlerbuch „Hotel-Hotel“ (1992), das heute wie eine Autobiographie Kippenbergers zu betrachten ist (und das heute eine gesuchte und teure Rarität in Künstlerantiquariaten ist). 

Blättern oder gar lesen kann man die Bücher in der Ausstellung nur punktuell. Und solange der Katalog nicht erhältlich ist, hilft vielleicht das „Kommentierte Werkverzeichnis der Bücher von Martin Kippenberger 1977-1997“, das im Verlag der Buchhandlung Walther König erschienen ist und das die Entstehungszusammenhänge der Bücher erklärt. Die Buchhandlung ist sicherlich großzügig, wenn man das eine oder andere Buch in den Händen halten möchte. Sie hat einen entscheidenden Stellenwert in den Buchspielen Kippenbergers. Das zeigt auch das ausgestellte Bücherregal „Berliner Mauer“. Martin Kippenberger hat diese Installation für das Schaufenster von Königs Buchhandlung in Köln entworfen. Den Zusammenhang zur Ausstellung „The Happy End of Franz Kafka´s Amerika“ im Museum Folkwang bilden die Künstlerbücher, die aus Anlass der ersten Ausstellung im Jahr 1994 erschienen sind.

Hinter dem Werk von Martin Kippenberger steht eine spannende künstlerische Haltung gegenüber seinem eigenen Werk, seiner eigenen Biografie, seinen Künstlerfreunden und seiner Zeit, die von Humor, Zynismus, Ironie und Spielfreude gekennzeichnet ist. Kippenberger hat mit allen Medien experimentiert und die Grenzen des Künstlerischen erprobt. Sein Werk ist ein künstlerischer Kommentar seines Blicks auf die Welt zwischen Erprobung von Möglichkeiten und Suche nach Sinn, auch wenn man häufig den Eindruck hat, dass er genau das negiert.

Gespannt sein kann man auf den großen Katalog, der noch während der Ausstellung erscheinen wird, da – wie schon gesagt – erst mithilfe der biografischen Details und künstlerischen Bezüge die ausgestellten Objekte ihre Bedeutungen  entfalten können.

Weitere Informationen / Hintergründe

Zur Einführung ein Film der Bundeskunsthalle in Bonn aus dem Jahr 2019:

Vor dem Besuch des 2. Teils der Kippenberger-Ausstellung in der Villa Hügel:

Mittels kurzer Videofilme wird ein Ausstellungsüberblick vermittelt sowie in die Präsentation der Künstlerbücher und der Plakate eingeführt. 

Unbedingt dem Link zum Kurzführer (mit Downloadmöglichkeit) folgen.

Kippenbergers Beschäftigung mit Franz Kafka verwirklichte sich in einer großen Installation, die in Essen gezeigt werden wird. Die Fondazione Prada in Mailand hat das Werk bereits ausgestellt. Auf der Homepage findet sich auch ein Ausstellungsführer:

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