„Ich bin gar kein Künstler. Es sei denn unter der Voraussetzung, dass uns alle als Künstler verstehen, dann bin wieder dabei. Sonst nicht.“ (J. Beuys, 1985)

Joseph Beuys: In Bewegung

Beuys-Plakate in Mülheim

Lothar Adam

Beuys. Galerie Kammer, Hamburg, 6.12.1981 – 26.1.1982; eigenes Foto

Vor hundert Jahren wurde Joseph Heinrich Beuys in Krefeld geboren († 23. Januar 1986 in Düsseldorf).

Er war und ist in Deutschland wie kaum ein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts bekannt und umstritten. Die gängigsten Stichworte zu Beuys: abgestürzter Kampfflieger (Legende: durch Fett und Filz gerettet), Schüler Matarés, deutscher Aktionskünstler der Fluxus-Bewegung, Bildhauer, Zeichner, Schamane, Befreier, Kunsttheoretiker und Professor an der Kunstakademie, Mitbegründer der Grünen, Gründer der „Freien Internationalen Universität“, Documenta-Teilnehmer.

Die Mülheimer Ausstellung „Joseph Beuys: In Bewegung“ nähert sich dem Künstler über Plakate, Aufrufe und Manifeste. Diese Fokussierung ist ein Glücksfall für jeden Besucher, der einen Überblick über das Leben und das Werk von Beuys bekommen möchte: Denn einerseits sind die ausgewählten Plakate selbst durch ihre gestalterische Qualität Kunstwerke, andererseits dokumentieren sie neben dem künstlerischen auch das politische Schaffen von Beuys. Die Plakate zeigen Ausstellungen und Aktionen in Museen und Galerien an, weisen auf politische Veranstaltungen (Wahlplakate für die Grünen) hin oder verbreiten politische Manifeste. In den meisten Fällen beaufsichtigte Beuys die Gestaltung der Plakate, signierte und stempelte sie oder schuf durch Überschreibungen individuelle Kunstwerke.

Beuys liebte Plakate, da ihre der Werbung nahe Ästhetik und ihre massenhafte Verbreitung seinem auf eine Gesellschaftsveränderung zielenden erweiterten Kunstbegriff entsprachen. In der Ausstellung ist auch eine Einkaufstüte zu sehen, die Beuys in der Kölner Innenstadt verteilt hat und die seine politischen Vorbehalte gegen den bundesdeutschen Parteienstaat dokumentiert.

Es ist ein besonderes Glück für das Mülheimer Museum, dass seinem Förderverein (für das Mülheimer Museum) 2019 der Neuerwerb von über 100 Beuys-Plakaten und Kleinschriften gelungen ist. Dieser Werkkomplex stammt aus der Hand des Mülheimer Medizin- und Kunsthistorikers Prof. Dr. Axel Hinrich Murken, der den Künstler als Freund und als Autor des Werkes „Beuys und die Medizin“ von 1968 bis zu dessen Tod im Jahr 1986 begleitet hat.

Was hat Beuys uns heute noch zu sagen?

Joseph Beuys und Bernhard Blume. Gespräch über Bäume Galerie Magers, Bonn, Händelstraße 13, am 24.4.1982 Entwurf: Bernhard J. Blume Aquarell mit Schablone und Filzstift in Grün mit zwei Stempeln © 2021 Joseph Beuys Estate/VG Bild-Kunst, Bonn

Der m. E. für die heutige Zeit relevanteste Aspekt seines Werkes liegt in seiner künstlerischen Auslotung des Verhältnisses von Mensch und Natur. In seinen wunderbar zarten Zeichnungen (nicht in der Ausstellung) von Tieren (Elche, Hirsche, Hasen und Bienen) wird erkennbar, dass Beuys das menschliche Leben als Teil eines, die Vegetation und Tierwelt einschließenden, umfassenderen Naturzusammenhangs versteht. 1967 gründet Beuys eine Studentenpartei, bei der die meisten Mitglieder Tiere sind.

Sein an die Romantik und an Rudolf Steiner anknüpfendes kosmologisches Denken findet seinen Ausdruck auch in diversen Plakaten der Mülheimer Ausstellung. (Andererseits erregt die geistige Nähe zu der Gedankenwelt von Rudolf Steiner die Kritik einiger Kommentatoren, die in diesem Zusammenhang auch auf seine jugendliche Begeisterung für den Nationalsozialismus, aus der Beuys nie einen Hehl gemachte hat, hinweisen.)

Joseph Beuys in Ilverich. Galerie ilverich, Meerbusch-Ilverich. 1.Mai – 11. Juni 1984. Eigenes Foto

Am eindrucksvollsten gestaltet wird dieses Thema in dem Plakat „Joseph Beuys in Ilverich“ aus dem Jahre 1984, das Beuys nach einer Fotografie von Sláva Stochl für die Ausstellung seiner Arbeiten in der Galerie Ilverich entworfen hat.

Die an Blut erinnernde rote Schrift mit den Hasenspuren, das dahinter liegende bedrohliche Grüngelb, das betont, dass dieses Hasenfoto mit einer technischen Vorrichtung, vielleicht einem Nachtsichtgerät, erzeugt wurde, lassen den abgebildeten Hasen als bedroht erscheinen. Aber ich glaube, der Betrachter kann ganz beruhigt sein: Dieser Hase ist in seiner konzentrierten Aufmerksamkeit, ablesbar an den aufgestellten Löffeln, dem den Betrachter anblickendem Auge, den sprungbereiten Pfoten, kein Opfer. Er wird uns hakenschlagend überleben.

Joseph Beuys pflegte Zeit seines Lebens ein besonderes Verhältnis zu Hasen. Er schätzte ihn als Symbol für Wendigkeit, Unsterblichkeit und Erdverbundenheit. Der Hase ist in anderen Zusammenhängen für ihn eine Chiffre für Bewegung oder ein Symbol der Inkarnation (mit Bezug auch zum christlichen Osterfest). Seit 1963 hat er mit toten Hasen agiert oder mit Hasenblut gemalt. Eine der bekanntesten Aktionen fand 1965 in Düsseldorf in der Galerie Alfred Schmela statt: „wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“.

Wahlplakat für die Grünen von 1997, eigenes Foto

1982 wird auf der Kasseler documenta die Zarenkrone von Iwan dem Schrecklichen eingeschmolzen und aus dem Gold ein kleiner Friedenshase geformt.

Das Motiv des überlebensgroßen Hasen vor einem Spielzeugsoldaten, „der Unbesiegbare“ von 1962, dem keine Kugel etwas anhaben kann, wird 1997 in einem Wahlplakat für die Grünen wiederaufgegriffen.

In einem Interview vergleicht Beuys die Bedeutung des Hasen mit der Wichtigkeit der menschlichen Organe. Die Natur ist für ihn ein lebensnotwendiger Teil des Menschen.

Kunst bekommt bei Beuys die Aufgabe, ein neues sensibleres Verhältnis zur Natur, v.a. zu Tieren zu fördern. Er war der Auffassung, dass Tiere über für Menschen nur schwer zugängliche Energien verfügen und aufgrund ihres Instinkts dem Wesenskern der Welt viel näher seien, so dass ein Austausch mit ihnen den Menschen bereichern werde.

In einer seiner spektakulärsten Aktion “I like America and America likes me“ von 1974 schließt sich Beuys in René Blocks New Yorker Galerie für 3 Tage und 3 Nächte mit einem wilden Kojoten (Little John) in einem Raum ein. Der Kojote ist ein Wolf, der in vielen Western sofort bei seinem Auftauchen abgeknallt wird. Er ist aber auch eine indianische Gottheit und steht damit für die fast ausgerottete amerikanische Urbevölkerung. Beuys nimmt in seiner Aktion eine radikal neue Haltung gegenüber dem Tier ein. Er will erproben, ob der Kojote die Handlungsregie übernimmt. Nachdem die Menschen (v.a. der weiße Mann) jahrhundertelang die Natur domestiziert und indigene Völker dominiert, genauer: fast ausgerottet haben, soll mit dieser Aktion von Beuys vorgeführt werden, dass eine radikale Umkehr dieser Struktur nicht nur notwendig, sondern auch möglich und wirksam ist.

Steckt hinter der aktuellen „Friday-for-Future-Bewegung“ nicht ein ähnlicher Impuls, nämlich endlich Verantwortung für die Natur, die ja den Menschen hervorgebracht hat, zu übernehmen?

Die Mülheimer Ausstellung ermöglicht den Zugang zur beuysschen Kunsttheorie auch über den 10minütigen Film „Beuys“ (1980) des Mülheimer Filmemachers Werner Nekes (1944–2017) und von Dore O. (*1946), in dem Beuys vor einer Wand stehend, der Kamera den Rücken zugedreht, wichtige Zusammenhänge seiner Kunsttheorie darlegt.

Beuys betont in dem Film, dass zum Menschsein sein Veränderungs- und Kreativitätspotential gehört.

Jeder Mensch kann seiner Meinung nach aufgrund seiner Denkfähigkeit und seiner Freiheit einen Willen entwickeln, der sein Leben umgestaltet, verbessert. Er kann kreativ werden, ja es ist seine Bestimmung, kreativ zu werden. Die Aufgabe der Kunst ist es, die inneren Kräfte des Menschen zu entwickeln, konkreter: Die Sinne und das Gefühlsleben sollen weiterentwickelt werden, das Denken soll in Richtung Inspiration, Intuition und Imagination geöffnet werden, und letztendlich soll der Wille zur Veränderung des Lebens geweckt werden. Dahinter steckt die Hoffnung, dass mittels einer so verstandenen, die Kreativität des Menschen fördernden Kunst sich die Gesellschaft in Richtung auf ein selbstbestimmteres Leben weiterentwickelt. Damit wird der z. B. durch die Rohstoffe (Fett, Kupfer, Filz) zu untersuchende und zu erweiternde Kreativitätsbegriff das Scharnier, das anthropologische, kunsttheoretische und gesellschaftsverändernde Denkansätze verbindet und in der bekannten These mündet: Jeder Mensch ist ein Künstler, (ein sozialer Gestalter der Zukunft).

An einer anderen Stelle wurde schon auf Beuys Beziehung zu Italien hingewiesen.

Hier zu dem Artikel „Beuys in Italien“.

Joseph Beuys. Difesa Della Natura Lucrezia De Domizio, Pescara Bolognano 1984 Fotografie: Buby Durini Farboffset Sammlung des Kunstmuseums Mülheim an der Ruhr © 2021 Joseph Beuys Estate/VG Bild-Kunst, Bonn
Dr. Beate Reese, Leiterin des städtischen Kunstmuseum, und Dr. Küpper, Vorsitzender des Fördervereins des Museum.

Mülheim darf sich ab sofort zu Recht ein „Beuys-Standort“ nennen:

Glückwunsch!

Der sehr informative Katalog zur Ausstellung ist zum Preis von 14,50 € im Museumsshop zu erwerben.
Axel Hinrich Murken
Joseph Beuys: In Bewegung. Plakate – Stationen seiner Kunst,
Herzogenrath 2021

Sonderbriefmarke zum Geburtstag

Als Höhepunkt des Mülheimers Gedenkens erscheint in Zusammenarbeit mit dem Museum für Moderne Kunst München und dem Förderkreis für das Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr e. V. eine von der Deutschen Post gedruckte Briefmarke Individuell mit dem berühmten Motiv La rivoluzione siamo Noi! (Wir sind die Revolution).

 

Die vom Mülheimer Gestaltungsbüro Sichtvermerk  entworfene Briefmarke liegt in einer ersten Auflage von 500 Exemplaren vor. Sie kann im 10er Bogen zum Kunst-Sonderpreis von 25,-€ mit einem Briefmarkenwert von 8,-€ im KUNSTMUSEUM TEMPORÄR unter kunstmuseum@muelheim-ruhr.de oder Tel. +49 (0)208-4 55 41 71 o. -38 bestellt werden.

Briefmarke Individuell Joseph Beuys: La rivoluzione siamo Noi, 1972 Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, © Joseph Beuys Estate / VG Bild-Kunst Bonn, 2021

Nachtrag Dezember 2021: Mittlerweile ist ein Beitrag zur Ausstellung von Beuys und Duchamp im Krefelder Friedrich-Wilhelm-Museum erschienen.

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