Mehr Licht. Die Befreiung der Natur. Der Kunstpalast Düsseldorf zeigt Ölstudien aus dem 19. Jahrhundert

Lothar Adam

Zäumen wir das Pferd mal von hinten auf:
Nach Besuch der Ausstellung, auf dem Weg vom Kunstpalast runter zum Rhein, die Sonne kam gerade hinter einer Wolke hervor, erinnerte ich mich an die folgenden Zeilen von Hans Magnus Enzensberger:

Gegen Streß, Kummer, Eifersucht, Depression
empfiehlt sich die Betrachtung der Wolken.
Mit ihren rotgoldenen Abendrändern
übertreffen sie Patinir und Tiepolo.
Die flüchtigsten aller Meisterwerke,
schwerer zu zählen als jede Rentierherde,
enden in keinem Museum.

In 12 Anläufen/Gedichten versucht Hans Magnus Enzensberger in der „Geschichte der Wolken“ das Erscheinen dieser „Spezies atmosphärischer Erscheinungen“ in den Griff zu bekommen bzw. auf den Begriff zu bringen. Allein:

Nur daß sie uns überleben wird
um ein paar Millionen Jahre,
hin oder her, steht fest.

Warum diese Ausstellung?

Meine Faszination beim Betrachten der Wolkenstudien, die einen Höhepunkt der Ausstellung „Mehr Licht“ bilden, ist durchaus der beim Lesen von Enzensbergers „Geschichte der Wolken“ vergleichbar. Beide künstlerischen Herangehensweisen, die schriftstellerische wie die malerische, stehen vor der Schwierigkeit, einem Objekt gerecht zu werden, das sich durch seine unüberschaubare Fülle an Erscheinungsformen und deren Instabilität auszeichnet.

Johann Jakob Frey (1813–1865) Wolkenstudie (bei Rom?), um 1835/1839 Öl auf Papier, auf Leinwand 30 x 46,8 cm Privatsammlung © Foto: OLRAC OTRO

Doch warum vermögen diese künstlerischen Exerzitien uns zu beeindrucken?
Sie kommen einerseits unserem gestiegenen Bewusstsein für die Bedeutung der Natur entgegen, wenn auf so Alltägliches, immer Vor-Augen-Sein wie die Wolken die künstlerische Aufmerksamkeit gerichtet ist.

Johann Wilhelm Cordes (1824–1969) Wolkenstudie mit Baumwipfel, 1861 Mischtechnik auf Büttenpapier, auf Karton 22,8 x 32,2 cm © Die Lübecker Museen, Museum Behnhaus Drägerhaus / Foto: Michael Haydn

Für mich kommt die Ausstellung auch deshalb zur rechten Zeit, weil sie Bilder zeigt, zu deren Wesen das Schnelle und Vorläufige, auf jeden Fall das Unvollendete gehört, so dass durch deren Betrachtung neue und ungewohnte Sichtweisen auf die uns umgebende (in vielerlei Hinsicht bedrohte) Natur möglich werden.

Johann Wilhelm Schirmer (1807–1863) Bachschleuse, um 1827/28 Öl auf Papier, auf Pappe 32 x 40,2 cm; Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf (NRW) © Kunstpalast - Horst Kolberg - ARTOTHEK

Was sind Ölstudien?

Jean-Baptiste Camille Corot (1796–1875) Civita Castellana, um 1826/1827 Öl auf Papier, auf Leinwand 25 x 38 cm Privatsammlung, Schweiz © Francis Fields

Die Bilder der Ausstellung können als Versuche verstanden werden, subjektive Landschaftseindrücke ohne Gedanken an ein zukünftiges Werk in die Sprache der Ölmalerei zu übersetzen. Ölstudien, meist unsigniert, sind von den Malern nicht mit der Absicht gemacht worden, eigenständige Kunstwerke zu werden. Es gab auch im 19. Jahrhundert keinen Kunstmarkt für sie.
Der Impuls für die Studien in der freien Natur folgt nur der reinen Lust am Malen; kein Auftrag, kein mythologisches oder religiöses Bildthema, in denen Landschaft zur Kulisse wird, muss in ihnen „abgearbeitet“ werden; auch wenn der ein oder andere Professor für seine Studenten dabei Vorlagen erstellte. Sie sind der heutigen Praxis der Produktion von Handyfotos auf Reisen nicht unähnlich.

Die Ausstellung zeigt somit Notizen und Erinnerungsdokumente von bekannten Namen wie Achenbach, Blechen, Carus, Corot oder Friedrich.
In ihr ist auch erfahrbar, dass von Ölstudien ein viel intensiveres ästhetisches Vergnügen ausgehen kann als von digitalen Schnappschüssen; denn jenen eignet das Handwerkliche, das Gemachte. Im Idealfall vermögen sie den Betrachtenden die Verarbeitung des Gesehenen im Kopf des Malenden zu veranschaulichen. Erkennbar ist in ihnen oft, was den Künstler an dem Motiv reizt, worauf sein Beobachtungsschwerpunkt liegt, was er vernachlässigt und was, weil vielleicht ein Regenguss droht oder er eine Verabredung einhalten möchte, unvollendet bleibt. Gerade die unfertigen Bilder geben dem Betrachter die Möglichkeit, einen aufschlussreichen Einblick in den künstlerischen Schaffensprozess zu bekommen. Eine Studie kann sich einer potentiellen Vollendung in unterschiedlichen Graden nähern.
Der besonderen Auswahl der Ausstellung ist es geschuldet, dass das Unvollendete der Studien nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist. Gut, die meisten Bilder sind im Format kleiner, als man es von Landschaftsbildern gewöhnt ist. Aber die von den Sammlern hinzugefügten Rahmen werten die Studien in Richtung eines fertigen Bildes auf, so dass es bei der einen oder anderen Studie genaueren Hinsehens bedarf, sie „nur“ als eine solche zu erkennen.

Ein Beispiel für die unterschiedliche Wirkung:
Lord Frederic Leighton (1830 – 1896), Terrasse auf der Insel Capri, 1859, Öl auf Papier, auf Leinwand 32,7 x 30,8 cm, © Fondation Custodie, Collection Frits Lugt, Paris (links eigenes Foto – Ausstellungsansicht)

Bei einigen Studien lässt sich erschließen, dass der Maler, nachdem er das Attraktive eines Motivs zu seiner Zufriedenheit dargestellt, den Hintergrund einfach mit Farbe gefüllt hat.

Carl Maria Nicolaus Hummel (1821–1907)
Studie eines Baumes im Park der Villa Carlotta, 1855
Öl auf Leinwand
13,8 x 16,9 cm
Privatsammlung
© Foto: Juan Cruz Ibañez Gangutia

Die Freiheit und die Lust am Experimentieren zeigen sich in den ungewöhnlichen Blickpunkten, aus denen die Landschaft wahrgenommen wird, und in den kompositorischen Wagnissen.

Ludwig Hugo Becker
(1833-1868)
Haus am Hang (Bergisches Land), 1885
Öl auf Papier, auf Pappe, auf Holz,
60 x 40 cm
Kunstpalast Düsseldorf, Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf
(eigenes Foto)

Salvatore Fergola (1799–1874) Polarlichteffekte, 17. Oktober 1848 Öl auf Leinwand 44 x 72,3 cm Privatsammlung © Galerie Carlo Virgilio, Roma / Foto: Arte Fotografica S.r.l.

Die Ausstellung belegt: schon vor den Impressionisten ging es diesen Malern in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts um die Darstellung von Landschaft unter den wechselnden atmosphärischen Bedingungen, ja, es kommt zu „seriellen“ Bildern, wie man sie von Monets „Heuhaufen“ her kennt.

Wie malt man ein Gewitter?

Den „Schlecht-Wetter-Bildern“ ist in der Ausstellung ein eigenes Kapitel gewidmet. Werfen wir einen genaueren Blick auf die Gewitter-Studie „Ansicht von Meudon auf Paris“ von Georg Michel. Das Besondere des Bildes lässt sich gut durch den Vergleich mit einem Gemälde aus dem 17. Jahrhundert, dem „Goldenen Zeitalter“ der holländischen Malerei, erkennen. Aelbert Cuyp: Gewitter über Dordrecht von 1645. Gemeinsam ist beiden Gewitterbildern, die ungefähr gleich groß sind, der tiefe Horizont in flacher Landschaft mit Fernsicht, wodurch die Wetterphänomene des aufkommenden Gewitters zum zentralen Bildmotiv werden.

Albert Cuyp (1620 - 1691), Gewitter über Dordrecht, um 1645, Öl auf Holz, 77,5 x 107 cm, © Mit freundlicher Genehmigung: Sammlung Emil Bührle, Dauerleihgabe im Kunsthaus Zürich
Georges Michel (1763–1843) Ansicht von Meudon auf Paris, o. J. Öl auf Papier, auf Holz 73,7 x 93 cm © Fondation Custodia, Collection Frits Lugt, Paris / Foto: Pascal Faligot

Lebt das Bild von Cuyp durch den Gegensatz des grellen Blitzes im Hintergrund mit den hell ausgeleuchteten ruhenden Kühen im Vordergrund, betont die Studie von Michel die bedrohliche Atmosphäre einer von düsteren Wolken überschattenden Ebene, in der allein die Silhouetten von Gebäuden in der Ferne Hinweise auf menschliches Leben geben. V.a. aufgrund der hohen Detailgenauigkeit bei Cuyp ist dem Betrachter bewusst, dass der Maler dieses Bild mit einem hohen Zeitaufwand im Atelier gemalt hat, während die Studie von Michel eine schnelle Arbeitsweise in der Landschaft erahnen lässt. Auf den ersten Blick könnte es sich sogar um ein Aquarell handeln, da durch die helle Transparenz der Farben und die offene Kompositionsordnung die Studie eine Leichtigkeit und Spontaneität erfährt, wie sie für Aquarelle bezeichnend ist.
In beiden Bildern werden die Lichtverhältnisse auf den Boden von den bedrohlichen Gewitterwolken bestimmt. Lässt sich bei Michel die Hell-Dunkel-Verteilung der Landschaft relativ gut als aus den Hell-Dunkel-Zonen der oberen Wolkendecken ableiten, so hat die Ausleuchtung der Kühe bei Cuyp etwas Künstliches, da die notwendige Wolkenlücke, die für das punktuelle auf die Kühe scheinende Sonnenlicht verantwortlich ist, außerhalb des Bildes liegt. Damit erinnert Cyps Lichtführung an die dramatische Hell-Dunkel-Malerei von Caravaggio.
Michel meistert die Herausforderung, den Regen wie auch die rasanten Bewegungen der von hinten beschienenen Gewitterwolken wiederzugeben, durch unterschiedlichste Grau- und Weißtöne und durch den kraftvollen Farbauftrag – mit z. T. breitem Borstenpinsel –. Dass dies alles andere als leicht ist, darauf hat später Cézanne mit seiner provokanten These hingewiesen, dass nur der ein guter Maler sei, der das facettenreiche Grau der Natur zu malen vermöge.
Peter Sloterdijk sieht in seinem speziell für diese Ausstellung verfassten Katalogbeitrag in der Konzentration auf das Atmosphärische einen ersten Schritt weg von der abbildenden Funktion hin zur reinen Abstraktion.
Fassen wir zusammen, das Gemälde von Cuyp strahlt bei allen Verweisen auf eine konkrete Situation etwas Künstliches, Gestelltes aus. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Bild auch eine symbolische Ebene ansprechen möchte. Auf der ließ sich die Nähe der ruhenden Kühe zu den festen Mauern der Kirche im Hintergrund als einen Verweis auf die rettende Funktion des Glaubens in Gefahrensituationen lesen. Die Studie von Michel „beschränkt“ sich auf Aufgabe, die Gewitter-Atmosphäre in einem kurzen Moment und an einem konkreten Ort zu einem bestimmten Moment darzustellen.

Welche Ausrüstung braucht der Maler?

Malkasten (eigenes Foto - Ausstellungsansicht)

Die Malweise dieser Bilder wird ermöglich durch konkreten technischen Erneuerungen. Dies wird in der Ausstellung durch einen Malkoffer aus der damaligen Zeit verdeutlicht. Ölfarbe in Tube, die auch noch schnell trocknet, wie es für die Draußen-Studien notwendig ist, gibt es ab 1840. In der Regel wurde auf Papier oder Pappe, manchmal auf Holz oder Leinwand, gearbeitet, alles in einem Format, das man gut in einem Koffer verstauen kann. Aber – und das war der entscheidende Vorteil – die Studie konnte von nun an in derselben Öl-Technik und mit derselben Farbvielfalt erfolgen, in der das später ausgeführte Landschaftsbild auch sein würde

Was mache ich in den Ferien?

In letzter Zeit werden in großen Handelsketten vergleichbare Mal-Ausstattungen zu erschwinglichen Preisen angeboten. Vielleicht kann diese Ausstellung dem einen oder anderen Mut machen, in der Natur das zu malen, was sein Auge reizt.
Dazu muss er nicht Reisender in einer spektakulären italienischen Landschaft sein (die Ausstellung zeigt herausragende Beispiele für dieses Motiv), sondern vielleicht reicht fürs Erste auch der Blick zum Himmel vom Balkon aus – auf die Wolken.

Frederik Rohde (1816–1886) Dächer, o. J. Öl auf Leinwand 25,4 x 22,2 cm © Fondation Custodia, Collection Frits Lugt, Paris / Foto: Pascal Faligot

Die Ausstellung zeigt 170 Ölstudien von 75 Künstler*innen, darunter zahlreiche noch nie öffentlich gezeigte Werke aus musealen und privaten europäischen Sammlungen. Sie geht noch bis zum

7. Mai 2023.

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