"Courage Lehmbruck und die Avantgarde" / Lehmbruck im Dialog mit Schiele
Lothar Adam
Das Lehmbruck-Museum nimmt einen neuen Anlauf, seinen Besuchern Wilhelm Lehmbruck (1881-1919) vorzustellen, indem es seine Skulpturen in den Kontext von Kunstströmungen und Künstler*innen setzt, die für den in Meiderich geborenen Lehmbruck im Laufe seines Künstlerlebens von Bedeutung waren.
Die lange und gründliche akademische Ausbildung, die Kenntnis der Werke Aristide Maillols, Georges Minnes, vielleicht auch der von Hans von Marees, aber v.a. die Auseinandersetzung mit dem Vorbild Auguste Rodin führen Wilhelm Lehmbruck zu seiner eigenen, unverwechselbaren plastischen Formensprache.
Die Ausstellung wird im Hauptraum sehr schlüssig eröffnet mit Bezügen zu Rodins „Bürger von Calais“, einem Denkmal, das angesichts der aktuellen Kriege von einer erschreckenden Brisanz ist. In seiner Züricher Zeit verkehrte Lehmbruck im Cabaret Voltaire und traf dort auf führende Vertreter*innen der Dada-Bewegung. Der Bezug der Ausstellung zur Dada-Bewegung, etwa den Marionetten von Sophie Teuber-Arp, und zu den Futuristen, ist für die Besucher*innen herausfordernd. Visuell offensichtlicher sind Beziehungen von Lehmbrucks Skulpturen zu Medardo Rosso, Oskar Schlemmer und Käthe Kollwitz. Aber natürlich ist es eine Freude, so wichtigen Werken der Kunstgeschichte, wie z. B. Umberto Boccionis „Forme uniche della continuetà nello spazio“ von 1913 und Wladimir Tatlins „Monument für die III. Internationale“ von 1919 zu begegnen.
Der Titel der Ausstellung „Courage“ kann auch als Impuls an die Besucher*innen verstanden werden, unübliche Vergleiche anzustellen und Parallelen und Abweichungen zu den Skulpturen von Lehmbruck zu entdecken.
Schiele und Lehmbruck begegnen sich
Im Zentrum der Ausstellung steht ein besonders geglückter Dialog zwischen den beiden Künstlern Wilhelm Lehmbruck und Egon Schiele – der eine historische Vorlage hat: 1912 zeigte das Hagener Folkwang-Museum des Kunstmäzens und Sammlers Karl-Heinz Osthausen für wenige Monate eine Schiele/Lehmbruck Ausstellung, in der u.a. Lehmbrucks kleiner weiblicher Torso von 1910/11 – der „Hagener Torso“ – gezeigt wird. Ob es im Rahmen dieser Ausstellung auch zu einer persönlichen Begegnung der beiden Künstler kam, ist nicht sicher. Als sicher kann allerdings gelten, dass beide das Werk des jeweils anderen genau verfolgt haben. „Die tiefe Verwandtschaft der Kunst beider im Hinblick auf Figurenstil, existentielle Thematik, Festhalten an der expressiven Figur als Ausdrucksträger körperlicher und psychisch-geistiger Gebärden“ ist offensichtlich (Kunsthistoriker Dietrich Schubert).
Wilhelm Lehmbruck „Kopf eines Denkers“
Erste Eindrücke
Der kahle schmale Schädel eines jungen unbekleideten Mannes mit riesiger Stirnwölbung und schlankem Hals ist leicht nach unten geneigt; sein nicht eindeutiger, vielleicht nachdenklicher, konzentrierter Blick verstärkt die Neigung des Kopfes. Ungleich verstümmelte Armstümpfe an breiten, athletischen Schultern erinnern an gestutzte Flügel. Die Fragmente der linken vor der Brust liegenden Hand zeigen eine mehrdeutige Gestik. Unterhalb der Rippen ist die Büste abgeschnitten, oberhalb des Schnittes fällt die weniger glatte Oberflächenstruktur unterhalb des Rippenbogens auf.
Biografisches
1910 ist Lehmbruck nach Paris gegangen. Nach Ausbruch des Krieges 1914 muss er nach Deutschland zurückkehren. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, seit Ende 1916 vorwiegend in Zürich. 1917 werden ihm Depressionen bescheinigt. Im März 1919 scheidet Wilhelm Lehmbruck freiwillig aus dem Leben, so dass „Der Denker“ eine der letzten Arbeiten des Künstlers ist.
Deutungen
Besonders viele Deutungsvarianten hat die Gestik der auf Herzhöhe liegenden Hand ausgelöst.
So finden sich: Die Hand sei klauenartig vor dem Brustkorb zusammenballt. Sie verweise auf die Form des Herzens. Aber auch als angedeutete Kreisform könnte sie erscheinen. Selbst Assoziationen an bestimmte Yoga-Haltungen, bei denen sich Daumen und Zeigefinger berühren, seien möglich. Offensichtlich soll die Gestik nicht eindeutig sein, sie unterstützt den Gesamteindruck des In-sich-Gekehrten, ihr zu eigen ist etwas konzentriert auf sich selbst Verweisendes, dem nichts Ausgreifendes, nichts Kommunikatives anhaftet.
Geprägt v.a. durch die Erfahrungen des Krieges ist für die Bewegung des Expressionismus das Bedürfnis nach einem „Neuen Menschen“ typisch. Offensichtlich will Lehmbruck mit der Wölbung des Stirnschädels die Wichtigkeit dieser Körperzone betonen, in der die Gedankenwelt ihr Zuhause hat. Von hier aus sollen alle leiblichen und seelischen Energien gesteuert werden. In Lehmbrucks Version des „Neuen Menschen“ dominieren der Geist, die Kraft des Willens und das Reich der Gedanken über einen fragmentierten Leib.
Einen Guss dieser Plastik hat Lehmbruck aus Verzweiflung im Herbst 1918 vor den Augen Fritz von Unruhs, seines pazifistischen Freundes, zerschlagen! In einem Brief, in dem dieser Vorfall berichtet wird, charakterisiert von Unruh das Ziel der Kunst von Lehmbruck als Schaffung eines zukünftigen Menschen (so ganz im Sinne Nietzsches), dessen Hirn wie die Kuppel (eines Gotteshauses) die Gebete der Gläubigen, alle Gefühle bewusster Menschlichkeit umfasse.
Hat die Büste auf der einen Seite somit utopische Elemente einer zukünftigen, vom Denken / Geistigen geleiteten Menschheit, so haftet dem Gesamteindruck, bedingt v.a. durch den gesenkten Kopf und die verstümmelten Arme, etwas Gequältes an. Die Skulptur zeigt meines Erachtens auch das Scheitern von Lehmbrucks Ringen um eine Bewältigung seines Lebens.
Es kann nur darüber spekuliert werden, inwieweit nicht nur der Irrsinn des Krieges für den hochsensiblen und unter Depressionen leidenden Künstler Anlass zum Selbstmord war, sondern auch seine unglückliche und unerfüllte Liebe zu der jungen Schauspielerin Elisabeth Bergner, die das Modell für mehrere seiner Werke war.
Egon Schiele „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“
„Das Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“ von Egon Schiele wurde schon in der letzten großen Expressionisten-Ausstellung im Essener Folkwang-Museum gezeigt.
Ich habe es durch Vergleiche mit den folgenden zwei Bildern genauer untersucht und fasse die Ergebnisse kurz zusammen:
Bei dem Selbstbildnis von Egon Schiele faszinieren zuallererst die Augen. Ihr Blick, der den Betrachtenden zu fixieren scheint, ist voller Sicherheit und Selbstbewusstsein, aber auch Zorn und Ärger spiegeln sich in ihm.
Die vor die Brust gehaltene Hand mit dem langen Zeigefinger verdeutlicht das zentrale „Werkzeug“ seiner Künstlerschaft. Wobei die überlangen, schmalen Finger und Gliedmaßen, der gelängte, leicht geneigte Kopf, der Verzicht auf jegliches weiteres Requisit und auf die Schilderung des Umraums eine Konzentration auf die psychophysische Aussage bewirken.
Dieses Selbstbildnis ist eine Inszenierung, eine Selbstdämonisierung. Ein junger Künstler ist angetreten, die Kunstwelt zu erneuern, zu revolutionieren. Seine außergewöhnliche Energie zeigt sich nicht nur in seiner außergewöhnlichen Gestik und der eindringlichen Mimik, sondern auch in der Behandlung des mit Rottönen durchsetzten Inkarnats und der Unruhe des Hintergrundes.
Schieles Selbstbildnis kann als selbstbewusste Siegesgeste über eine veraltete und verachtete Kunstwelt verstanden werden.
Zusammenfassung
Gemeinsam ist beiden expressionistischen Werken, dass ein junger Männerkopf und eine Handgeste Ausdrucksträger eines psychophysischen Zustandes am Anfang des 20. Jahrhunderts sind. In einer Zeitepoche, die durch gravierende Umwälzungen in allen gesellschaftlichen Bereichen gekennzeichnet ist, ist die Reaktion bei Schiele, so wie sie diesem Selbstporträt zu entnehmen ist, eine trotzige aggressive, und letztendlich eine autonome Künstlerpersönlichkeit konstruierende Haltung gegen die vorherrschende Kunst, die Gesellschaft, gegen alles.
Sieben Jahre später hat der 1. Weltkrieg gerade auch Künstler, Schriftsteller und viele Intellektuelle, die an seinem Anfang noch von seiner reinigenden Kraft ausgingen, tief erschüttert. Vielleicht zeigt der Denker von Lehmbruck, dass die Hoffnung auf eine bessere Welt bzw. einen geläuterten Menschen 1918 nicht ganz erloschen ist, aber die Kraft fehlt, den Kampf für diese Ziele wieder aufzunehmen. Den Engeln sind die Flügel gestutzt.
Verwendete Literatur
• Dietrich Schubert, Anmerkungen zur Kunst Lehmbrucks; Originalveröffentlichung in: Bruckmanns Pantheon 39 (1981), Nr. Jan/Feb/März, S. 55-69;
http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2014/2972
• Gabriele Juppe, Kopf eines Denkers, in: Kultur-Stiftung der Länder – Parimonia 133