Kunst für das Wohnzimmer?

Klaus-Peter Busse

Chagall, Matisse, Miro. Made in Paris. Museum Folkwang Essen

Druckerei Idem, Paris, 2023 © Item Editions, Paris Foto: Museum Folkwang, Essen

In der Kunst haben das Künstlerbuch und Mappenwerke einen besonderen Stellenwert. Künstlerbücher übernehmen die Eigenarten eines Buchs für eigene künstlerische Gestaltungen vom Umschlag bis zum Buchblock. In vielen Fällen gibt es nur ein einziges Examplar solcher Bücher. In anderen Fällen werden sie in unterschiedlicher Auflagenhöhe gedruckt. Mappenwerke versammeln künstlerische Arbeiten in einem Portfolio, das ebenfalls ein Original oder eine Edition sein kann. Werden Künstlerbücher und Mappenwerke gedruckt, treten wichtige Personen auf. Künstler und Künstlerinnen benötigen die Unterstützung durch eine Druckwerkstatt, die über die notwendigen Kenntnisse in der Handhabung von Druckgeräten, Druckfarben und Papiere verfügt. Und es bedarf Personen, die diese gedruckten Produkte anbieten und verkaufen. Man spürt schnell: Die Arbeit an solchen künstlerischen Werken ist sehr komplex. In der Kunstgeschichte gibt es seit der Erfindung von Drucktechniken viele Dokumente über das spannende Zusammenspiel von Künstlern, Künstlerinnen, Druckereien und Personen im Vertrieb dieser Arbeiten. Bis heute entwickeln sich diese Formen des künstlerischen Arbeitens, auch weil sich die Drucktechniken selbst verändern. Der große Schritt lag im 19. Jahrhundert in der Verbreitung der Lithografie, und heute ist es die digitale Drucktechnik, die auch die Herstellung künstlerischer Arbeiten verändert. Kunstgeschichte ist immer auch die Geschichte ihrer Medien.

Marc Chagall A midi, l’été (Mittags, der Sommer), 1961 Blatt 11 aus dem Portfolio Daphnis et Chloé Farblithografie, 42,2 x 32 cm © VG Bild-Kunst, Bonn 2023 Foto: Museum Folkwang, Esse
Joan Miró Sans titre (Ohne Titel), 1958 Aus dem Portfolio Paul Eluard: A toute épreuve Farbholzschnitt, 33 x 25,5 cm © Successió Miró / VG Bild-Kunst, Bonn 2023 Foto: Museum Folkwang, Essen

Die Ausstellung Chagall, Matisse, Miro. Made in Paris zeigt die französische Hauptstadt als Hotspot der Entstehung von Künstlerbüchern und Mappenwerken seit dem späten 19. Jahrhundert, und sie präsentiert wichtige Beispiele dieser Entwicklung, die wesentlich durch die in Paris verfügbaren Druckwerkstätten und durch einen regen Kunsthandel bedingt war. Künstler wie beispielsweise Picasso, Bonnard, Delaunay und Braque trafen auf optimale Bedingungen der Zusammenarbeit mit Werkstatt und Vertrieb. Paris war der Ort der Moderne, und natürlich drängten die vielen kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen auch in neue Umgangs- und Produktionsformen von Kunst. Die damals aktuelle Literatur etwa von Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé und Paul Valéry hatte großen Einfluss auf die Kunst der Zeit. In Paris standen Kunst und Literatur in einem engen Verhältnis: ein einzigartiges Ereignis in der Kunst- und Literaturgeschichte. Dies mag ein weiterer Grund für die explosiven Ereignisse gewesen sein, die die Ausstellung in Essen zeigt.

Henri Matisse Le lanceur de couteaux (Der Messerwerfer), 1947 Blatt 15 aus dem Portfolio Jazz Schablonendruck, 42 x 65,5 cm © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2023 Foto: Museum Folkwang, Essen

Was reizte die Künstler im Umgang mit diesen Medien? Zunächst bieten Künstlerbücher und Mappenwerke Bildformen, die im Gemälde und in der einzelnen Zeichnung nicht möglich sind. Man kann probieren, verschieben, ordnen und vor allem in mehreren Blättern erzählen. Das ist wichtig, wenn man ein literarisches Werk illustrieren will. Es waren aber auch die neuen Möglichkeiten der Druckgrafik, mit der Künstler experimentierten. Schließlich konnten die Künstler davon ausgehen, mit dieser Form der Bildproduktion einen großen Kreis von möglichen Interessenten zu erreichen, was dem damaligen Kaufverhalten bürgerlicher Kreise entsprach, die anfingen, ihre Wohnräume auch mit ästhetischen Objekten zu gestalten. Kunstgeschichte ist auch Sozialgeschichte.

Es ist vielleicht übertrieben, die Verbreitung von druckgrafisch verfügbaren Künstlerbüchern als „Kunst für das Wohnzimmer“ zu bezeichnen, aber diese Formulierung trifft den Kern des Mediums, der bis heute gilt und sich sogar noch verstärkt hat: Während künstlerische Einzelwerke kaum mehr erschwinglich sind und deren Kauf nur wenigen Personen oder Institutionen vorbehalten ist, werden sorgfältig produzierte Kunstbücher in begrenzten und signierten Auflagen erschwinglich. Künstler und Künstlerinnen gestalten selbst Plakate, die von ihnen monogrammiert werden und ihren Weg an die Wände von Wohnräumen finden. Solche Plakate z. B. von Picasso sind in der Ausstellung zu sehen (obwohl sie selbst heute wieder sehr viel Geld kosten). Auch entwickelt sich eine neue Form des Sammelns: Es entstehen private Bibliotheken mit solchen Dokumenten und Antiquariate, die diese Ephemera vertreiben. Gerhard Steidl, der den Katalogdruck der Essener Ausstellung verantwortet, ist nicht nur der Verleger der Künstlerbücher von Jim Dine, der in Essen präsent ist, sondern auch der Künstlerbücher von Richard Serra, die er faksimiliert und in Editionen anbietet. Seit Made in Paris hat sich im Vertrieb von Künstlerbüchern viel verändert.

Pablo Picasso Alanceando a un toro (Einen Stier mit der Lanze stechen), 1959 Blatt 26 aus dem Portfolio La Tauromaquia Aquatintaradierung, 19,5 x 29 cm © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2023 Foto: Museum Folkwang, Essen

Der Kurator der Ausstellung hat eine beachtenswerte Arbeit geleistet. Man spürt seine Leidenschaft überall, und sie überträgt sich auf den Betrachter. Die vielen künstlerischen Arbeiten sind sorgfältig gehängt, in Vitrinen gelegt und in Beziehung zu den Gemälden der Künstler gestellt, deren Künstlerbücher gezeigt werden. Die gezeigten Werke zeigen die Freude der Künstler im Umgang mit diesem Medium, die sich in den lebendigen Kompositionen spiegeln. Das Künstlerbuch Jazz von Henri Matisse wird komplett auf einer großen Wand gezeigt und wirkt so anders als beim Blättern im Portfolio. Vor allem der Katalog zur Ausstellung dokumentiert die wissenschaftliche Recherche zum Thema, und seine Anschaffung sei ausdrücklich empfohlen, weil man dort im Nachgang die vielen Buchseiten genauer lesen kann. Endlich mal ein Katalogbuch, das den Standards entspricht: Wissenschaftlichkeit, gute Lesbarkeit, hervorragende Abbildungen. Die Ausstellung ist also nicht nur etwas für das Sehen, sondern auch für das Lesen.

In der Kunst des späten 20. Jahrhunderts hat sich die Entwicklung des Künstlerbuchs fortgesetzt. Die Ausstellung in Essen zeigt sie auszugsweise. Weitere, besonders wichtige Meilensteine sind die hier nicht verfügbaren Künstlerbücher und Editionen des Katalanen Antoni Tapiès und des Amerikaners Robert Motherwell. Sie verdienen, im Kontext des Ereignisses in Essen erwähnt zu werden, denn sie präsentieren den Umgang beider Künstler mit abstrakten und gestischen Bildformen in der Auseinandersetzung mit zum Teil avantgardistischen literarischen Texten, was eine besondere künstlerische Herausforderung ist. In einem weiteren Nachgang zur Ausstellung lohnt es sich zu schauen, wie Künstler auf James Joyce in Künstlerbüchern reagieren oder wie sie versuchen, dort an die Grenzen druckgrafischer Techniken zu gehen.

Die Ausstellung geht noch bis 7. Januar 2024

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