Flowers! – neue Blicke auf ein altes Motiv

Lothar Adam

Ich muss zugeben, dass ich etwas skeptisch war, als ich davon hörte, dass das Dortmunder U eine Blumenausstellung plant. Sollte – dem Essener Folkwang-Museum mit seiner Impressionismus-Ausstelllung folgend -, eine Blockbuster-Ausstellung angestrebt sein und wird man diese dem kritischen Leserkreis unseres Blogs empfehlen können?
Um es vorwegzunehmen: Nach dem Besuch der Ausstellung kann ich diese Frage nur bejahen, ich bin begeistert.
Als ob Adolf Winkelmann meine Vorbehalte geahnt hat, zeigt er – im Eingangsbereich des Us – in seiner Tonfilm-Installation eine Blumenwiese aus dem heimatlichen Sauerland (Sorpesee), um den vertrauten Blick nachhaltig zu erschüttern – mehr sei nicht verraten.
Zunächst begegnet man in den ersten Ausstellungsräumen Erwartbarem: Blumenbildern des Expressionismus.

(Eigenes Foto)

Emil Nolde, Schale mit Blume, darunter Gabriele Münter, Exotische Pflanze und rechts Wlater Ophey, Tulpen.

Es folgt eines meiner Lieblingsbilder der Ausstellung: die melancholischen „Anemonen“ von Max Beckmann.

Max Beckmann Anemonen 1932, Öl auf Leinwand, 35,5 x 24,5 cm Privatsammlung, Norddeutschland Courtesy Galerie Utermann Foto: www.hanneswoidich.photo

Je weiter man durch die Ausstellung schlendert, umso überraschender werden die ausgestellten Objekte. So regen die „Tears of a Swan“ von Quynh Dong die Betrachtenden zu Spekulation ob der Ursache für die verflossen Schwanentränen an, wobei der Verdacht, sich dem Kitsch zu nähern, berechtigt und möglicherweise vom Künstler beabsichtigt ist.

(eigenes Foto)

Die Highlights der Ausstellung befinden sich m. E. in den Räumen gegen Ende der Ausstellung. Hier werden aktuelle Videoarbeiten und Objekte feministischer Künstlerinnen gezeigt. Für die Multimedia-Installation Power Plants von Hito Steyerl wurde eigens der letzte Raum des Ausstellungsrundgangs gestaltet.

Hito Steyerl Power Plants;2019, Mehrkanal-HD-Video, Farbe, Loop; Environment: Stahlgerüste, LED-Module, LED-Text-Module, zementbeschichtete MDF-Kästen, Kies (Olivin), Größe variabel Courtesy die Künstlerin; Neuer Berliner Kunstverein, Berlin; Andrew Kreps Gallery, New York; Esther Schipper, Berlin © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 Foto: Neuer Berliner Kunstverein / Jens Ziehe

Absolut sehenswert ist die humorvolle Arbeit von Pipilotti Rist.

Pipilotti Rist Ever Is Over Al;1997, 2-Kanal-Videoinstallation, 4:09 min (Zyklus Smash) bzw. 8:25 min (Zyklus Flower), Farbe; Sound © Anders Guggisberg & Pipilotti Rist, Maße variabel Edition 1/3 + e. a.;Privatsammlung;© VG Bild-Kunst, Bonn 2022;Foto: Ron Amstutz

Hier ein kleiner Ausschnitt aus der 2-Kanal-Videoinstallation (eigener Mitschnitt)!

Besonders beeindruckt hat mich die Arbeit „Dicordo ergo sum“ von Renate Bertlmann, die im Folgenden genauer untersucht wird.

2019 bekommt Renate Bertlmann den Auftrag, den österreichischen Pavillon auf der Biennale in Venedig zu gestalten. Die österreichische Künstlerin (1943*) gehört seit den 70er Jahren zur feministischen Avantgarde ihres Landes.
Ihr schon häufiger verwendetes Motto „Amo ergo sum“ variiert den Spruch von Descartes „Cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich.)
Diesen Satz lässt die Künstlerin groß über die Außenfassade des österreichischen Pavillons als Eingangsmotto anbringen.

Still aus: Renate Bertlmann — Austrian Pavilion, Biennale Arte 2019

In dessen Innenhof betitelt sie allerdings die zentrale Installation, ein mit 312 Rosen-Messern bestückte Blumenfeld, mit „Discordo Ergo Sum“: Ich widerspreche, also bin ich.

Still aus: Renate Bertlmann — Austrian Pavilion, Biennale Arte 2019

Im Studio von Adriano Berengo auf Murano, der für die Glaskunst berühmten Insel vor Venedig, entstanden die Rosenblüten als mundgeblasene Einzelstücke, wobei eine besondere Herausforderung in der Herstellung des von der Künstlerin vorgegebenen Rottons bestand.

Erst beim Näherkommen entdeckt man, dass die Glasblüten mit Metall-Klingen bestückt sind. Zusammen stehen sie auf in Reihen angeordneten Metallstäben unter freiem Himmel vor einer weißen Wand.

Still aus: Renate Bertlmann — Austrian Pavilion, Biennale Arte 2019

2020 werden 286 Blüten – allerdings mit sichtbarem metallenem Unterbau – im Wiener Carlonen-Saal (Oberes Belvedere) gezeigt.

Renate Bertlmann Discordo Ergo Sum; 2019, Murano Glas, Metall, Skalpelle, Maße variable Tia Collection, Santa Fe, USA, courtesy Richard Saltoun Gallery, London;© VG Bild-Kunst, Bonn 2022 Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien

Dieses Rosenfeld ist jetzt zum ersten Mal in Deutschland zu sehen. Natürlich fehlt in der Dortmunder Ausstellung das venezianische Sonnenlicht, das auf dem ursprünglich hellen Untergrund rötliche Schatten warf. Auch bleibt die immanente Anspielung auf die einheimische Glasbläserkunst verborgen. Trotzdem überzeugt die Darbietung der Arbeit von Renate Bertlmann im Dortmunder U: Hinter- und Seitenwände nehmen die Farbe der Rosen auf, wobei es der Lichtführung gelingt, trotz des intensiven Rottons die Wände der Koje ins Unbestimmte zu weiten. Diese Inszenierung der Arbeit ist eine von der Künstlerin goutierte Idee der Szenografie-Agentur Soda, mit der das Museum auch schon bei anderen Ausstellungen zusammengearbeitet hat.

(Eigenes Foto)

Offensichtlich ist, dass in der Arbeit zwei Motive kombiniert werden, die auf dem ersten Blick sehr unterschiedliche Assoziationen auslösen.
Wird eine rote Rose, ihre Dornen vernachlässigend, oft in Zusammenhang mit Liebe, Romantik, Schönheit und Zärtlichkeit gesehen, ruft eine metallene Klinge eher Assoziationen an Kampf, Schmerz und Aggressionen hervor. 

(Eigenes Foto)

Lässt man sich etwas länger auf die Deutung der Gegenstände ein, schreibt man jedem Gegenstand die gegenteilige Eigenschaft des anderen zu. Sieht man z. B. in der Rose etwas Anziehendes, so wird die Klinge zu etwas Abschreckendem. Sieht man in der Klinge eine Angriffswaffe, so zeugt die Rose von der Verwundbarkeit. Betont man die Härte der Metallklinge, entdeckt man in der Rose deren Weichheit.
Aber es kommt auch zu fließenden Bedeutungsüberlagerungen: das Rot der Rose leitet über zum Blut, das durch den Stich eines Messer hervorgerufen wird, wobei der Stich wieder als Herzschmerz zur Rose zurückkommen kann.
Sieht man in der Klinge ein medizinisches Skalpell, dann können in Kombination mit der Rose die Schmerz-, aber auch Heilerfahrungen von Liebesbeziehungen angesprochen sein.
Hinzu kommt, dass durch die Anordnung der Gegenstände, v.a. durch die senkrecht herausragende Klinge, auch Assoziation an Phallus und Vagina hervorgerufen werden können, wodurch sich der Deutungshorizont noch weiter öffnet.
Betrachtende werden noch zahlreiche weitere individuelle Konnotationen mit den Gegenständen verbinden, angefangen bei Heartfields politischer Collage der auf ein Bajonett aufgespießten Taube bis zu den spektakulären Rosenbildern von Cy Twombly im Münchener Brandhorst-Museum.

Was hat es nun mit der Anordnung und dem seriellen Charakter der Blüten-Messer auf sich?

(Eigenes Foto)

Worin die Bedeutung der Messer-Rosen auch immer liegen mag, die Installation verdeutlicht einerseits durch Wiederholung der Motivkombination, dass kein Einzelfall thematisiert wird. Betrachtet man allerdings die Rosenblüten genauer, stellt man andererseits fest, dass jede Glasblüte ein Unikat ist.
Die serielle Anordnung erinnert an die Strenge von Soldatenaufstellungen anlässlich einer Parade; aber auch der Eindruck von Fragilität kann entstehen: Könnte eine Windböe die ganze Installation nicht in leichte Schwingungen versetzen?
Wieder diese Kombination von Widersprüchlichem! Vielleicht liegt genau darin die Faszination, die von dieser Arbeit ausgeht. Im Detail wie im Ganzen wird anschaulich, dass vermeintlich Widersprechendes zusammengeht, durch das Kunstwerk existiert. Die Betrachtenden werden mit dieser Arbeit aufgefordert, dem Nicht-Zusammengehörigen einen kohärenten Sinn zu geben, dabei werden möglicherweise Erinnerungen mit hohem emotionalem Potential abgerufen.

Der Titel „Discordo Ergo Sum“ kann nach der Untersuchung der Arbeit somit nicht nur verstanden werden als Einspruch, Widerspruch im Sinne einer feministischen Gesellschaftskritik, sondern deutet das Kunstwerk als Beispiel für eine Weltsicht, die Widersprüchliches dialektisch zusammen zu denken vermag.

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